Dieses Projekt hat das Ziel ein smartes Sensorsystem zu entwickeln, welches sich selbst steuern und an die aktuelle (Geräusch-)Umgebung anpassen kann. Die zugrunde liegenden Mechanismen orientieren sich hierbei an dem biologischen Vorbild, der Schalldetektion im (menschlichen) Innenohr (Cochlea). Die Schalldetektoren in der Cochlea, die sogenannten Haarzellen (Bild 1), sitzen auf der Basilarmembran, welche sich durch den eintreffenden Schall verbiegt. Diese Verbiegung sorgt für eine Anregung der inneren Haarzellen, welche daraufhin den Gehörnerv stimulieren. Somit wird das akustische Signal in ein elektrisches Signal umgewandelt. Die äußeren Haarzellen hingegen können durch aktive Prozesse (z.B. Eigendynamiken) die Anregung der inneren Haarzellen modifizieren, sodass die Schalldetektion und das resultierende Signal verändert werden. In dieser Weise wird eine nichtlineare Verstärkung der Signale erreicht, wobei leise Geräusche bzw. Töne verstärkt werden und lautere gedämpft. Diese aktiven Prozesse ermöglichen erst den riesigen Dynamikbereich des menschlichen Ohres von 120dB SPL (entsprechend 20*10-6Pa - 20Pa Schalldruck), wobei gleichzeitig eine Lautstärkenänderung von nur 1dB und Frequenzunterschiede von 4Hz detektiert werden können (für Frequenzen < 2kHz). Die Dynamik der äußeren Haarzellen wiederum kann durch verschiedene Rückkoppelschleifen, insbesondere neuronales Feedback, gesteuert werden. Dies ermöglicht die Anpassung der Schalldetektion an die Hörumgebung, d.h. es können gezielt bestimmte Signale verstärkt oder gedämpft werden, wodurch z.B. das Sprachverständnis in schwierigen Situationen gewährleistet wird („Cocktailparty-Effekt“).

Alterung, Lärmbelastung und verschiedene Stoffe (die drei Hauptursachen von erworbenen Hörverlust) allerdings schädigen die Haarzellen bis hin zum Verlust dieser. Dies führt zu einem stark eingeschränkten Dynamikbereich (Lautstärke), einer Begrenzung des Frequenzbereiches und somit deutlich erhöhten Hörschwellen (bis zu 55dB SPL) und Einschränkungen im Sprachverstehen.
Daher arbeiten wir an der Entwicklung künstlicher Haarzellen [1], welche ähnliche Eigenschaften wie das natürliche Vorbild aufweisen, d.h. eine nichtlineare und modifizierbare Sensorantwort, sodass gezielt Signale verstärkt oder gedämpft werden können sowie die Frequenzauflösung variiert werden kann. Die Anwendungsbereiche dieser künstlichen Haarzellen sind vielfältig:

 

1. Sie könnten als Ersatz für die natürlichen Haarzellen genutzt werden, um Hörverlust zu kompensieren.

2. Mit ihnen können Studien zur Dynamik von nichtlinearen, gekoppelten Oszillatoren durchgeführt werden.

3. Mit ihnen kann ein biomimetisches Mikrofon realisiert werden, in welches bereits aufgrund des Funktionsprinzips Verstärkung, Filterung und ein Teil der Verarbeitung integriert sind. Ein solches Mikrofon könnte im Vergleich zur konventionellen Technologie, bestehend aus Mikrofonen mit linearer Transfercharakteristik und nachgeschalteter Signalverarbeitung, natürlichere Signale erzeugen, welche den im Innenohr detektierten Signalen ähnlicher sind und weniger (künstliche) Signalverzerrungen enthalten. Insbesondere für Hörgeräte bzw. Cochlea-Implantate könnte dies sinnvoll sein, da es die Adaption von Patienten an die Technologie erleichtern könnte sowie energieeffizientere, voll-implantierbare Systeme ermöglichen könnte.

4. Weiterhin ist ein auf künstlichen Haarzellen beruhendes Sensorsystem ein Demonstrator für ein smartes, (selbst)-adaptierendes bzw. selbststeuerndes Sensorsystem mit integrierter (Vor-) Verarbeitung. Ein solches System kann zur Verringerung des notwendigen Datenstreamings, der Datenverarbeitung und –speicherung führen, insbesondere im Hinblick des Internets der Dinge, da nur relevante Daten aufgenommen und diese bereits vorverarbeitet werden.

Das Funktionsprinzip der künstlichen Haarzellen und die verwendeten Sensoren sind in Bild 2 dargestellt. Wir verwenden sogenannte aktive Cantilever als Sensoren [2]. Diese sind Silizium-Biegebalken, in welche ein Verbiegungssensor und ein thermomechanischer Aktuator integriert sind. Die Verbiegung des Sensors durch den Schall wird hierbei über die piezo-resistiven Elemente in ein elektrisches Signal umgewandelt. Eine Rückkoppelschleife nutzt den Aktuator, um die Haarzelle als kritischen Oszillator zu betreiben. Solche Oszillatoren zeigen die nichtlineare Verstärkung, wie sie für die Schalldetektion in der Cochlea beobachtet wird, automatisch. Die Algorithmen für die Rückkoppelschleife basieren hierbei auf physiologischen Modellen der Haarzelldynamik und/oder Theorien der nichtlinearen Dynamik.

Die so realisierten künstlichen Haarzellen zeigen die gewünschte nichtlineare Verstärkung bei der Schalldetektion und diese ist gezielt modifizierbar [3]. Wie in Bild 3 gezeigt, ist die (normierte) Sensorantwort für den passiven Fall ohne Feedback klein und ungefähr gleich für verschiedene Schallpegellevel. Im Gegensatz dazu nimmt die Sensorantwort im aktiven Fall, d.h. mit Rückkoppelschleife, mit abnehmenden Schallpegellevel zu und sie ist bis zu 19dB größer als im passiven Fall. Somit werden leise Signale stärker verstärkt als laute, wodurch die Signal-zu-Rauschverhältnisse insbesondere für kleine Schallpegelverhältnisse deutlich verbessert werden. Die Sensorantwort kann hierbei durch die Parameter der Rückkoppelschleife verändert werden, sodass die Detektionseigenschaften steuerbar sind.
Die geplante Erweiterung des Aufbaus auf Multi-Sensorsysteme, wobei die Cantilever verschiedene Resonanzfrequenzen aufweisen, ermöglicht die Messung über größere Frequenzbereiche und die Ausnutzung nichtlinearer Effekte aufgrund der Kopplung der Sensoren. Diese sollen die Verstärkung und Frequenzauflösung noch weiter verbessern. Durch Kombination dieser adaptiven Sensoren mit neuromorphen, lernenden Systemen, welche die Geräuschumgebung analysieren können und daran angepasst die Rückkoppelschleife modifizieren, könnten autonome, selbststeuernde Sensorsysteme realisiert werden.

[1] C. Lenk, S. Gutschmidt, I. W. Rangelow, “Vorrichtung und Verfahren zur Aufnahme von Schall in Gasen oder Flüssigkeiten”, Patent angemeldet.
[2] I .W. Rangelow, T. Ivanov, A. Ahmad, M. Kästner, C. Lenk, I.S. Bozchalooi, Fangzhou Xia, K. Youcef-Toumi, M. Holz and A. Reum, J. Vac. Sci. & Tech. B 35, 06G101 (2017).
[3] C. Lenk, A. Ekinci, I. W. Rangelow, S. Gutschmidt, Conf Proc IEEE Eng Med Biol Soc. 2018, 4488-4491 (2018).