Wie ein elektrisches Feld die Stärke einer polaren Bindung zwischen zwei einzelnen Atomen bestimmt

von M. Omidian, S. Leitherer, N. Néel, M. Brandbyge, J. Kröger, Phys. Rev. Lett. (akzeptiert, April 2021)
Fachgebiet Experimentalphysik I (Oberflächenphysik)


„Ich möchte über die Herausforderung sprechen, Dinge auf einer kleinen Skala zu manipulieren und kontrollieren … Welche Eigenschaften bekämen Materialien, wenn wir die Atome platzierten, wie wir es wollen? … Atome auf kleiner Skala sind ganz anders als Objekte auf großer Skala, erfüllen sie doch die Gesetze der Quantenmechanik … Man mag fragen: ‘Wer soll dies tun und warum soll man es tun?’ … Man könnte es aus purer Freude tun. Also, Spaß ist angesagt! Es soll ein Wettbewerb zwischen den Laboratorien stattfinden. Ein Labor baut einen winzigen Motor, und ein anderes Labor stellt etwas her, das in die Antriebswelle des ersten Motors passt …‟ — Dies sind die Gedanken des berühmten Physikers und Nobelpreisträgers Richard Feynman, die er 1959 auf einem Treffen der APS in Pasadena vorgestellt hat. Sie stellen eine Hauptmotivation der Forschungsaktivitäten der Gruppe Experimentalphysik 1 dar. Ein Beispiel dieser Aktivitäten wurde kürzlich im wichtigsten Journal für physikalische Forschung – Physical Review Letters – publiziert und soll hier vorgestellt werden.

Die Kontrolle von Prozessen auf der atomaren und molekularen Skala durch Mittel der makroskopischen Welt begründet das Herz der Nanotechnologie. Die Kombination aus Experimenten mit einem Rasterkraftmikroskop (AFM) an der Technischen Universität Ilmenau und Nichtgleichgewicht-Transport-Rechnungen an der Technischen Universität Dänemark bedeutet einen wichtigen Schritt zu diesem Ziel.

Eine goldene AFM-Spitze wurde verwendet, um epitaktisch auf einem SiC-Substrat gewachsenes Graphen zu kontaktieren (Abb. 1). Die chemische Bindung zwischen dem einzelnen Au-Atom, das die Spitze terminiert, und einem C-Atom des Graphengitters wurde durch eine am Kontakt angelegte Spannung gezielt beeinflusst. Eine positive Spannung bewirkt die Orientierung des elektrischen Feldes von der Oberfläche zur Spitze und ergibt eine starke chemische Bindung. Die Stärke der Bindung ist groß genug, um die Graphenlage robust mit der Spitze zu verankern und sie beim Zurückziehen der Spitze von der Oberfläche zu lösen. Bei negativer Spannung hingegen, die das elektrische Feld von der Spitze zur Oberfläche  orientiert, ist die Bindung nur schwach. Sie kann der mechanischen Last der Graphenlage nicht standhalten und bricht, bevor Graphen angehoben wurde.

Abbildung 1: (A) Illustration des experimentellen Aufbaus. Die AFM-Spitze schwingt mit ihrer Resonanzfrequenz von ~ 30 kHz bei einem Qualitätsfaktor von ~ 50000 und einer Amplitude von 50 pm. Die Probe besteht aus Graphen auf SiC(0001). (B) AFM-Bild eines Teils des Graphen-Honigwaben-Gitters mit markierter Position von C-Atomen.

Der experimentelle Nachweis der starken Au-C-Bindung erfolgt durch ein charakteristisches Schleifenverhalten der Resonanzfrequenzänderungen (Δf) der oszillierenden AFM-Sonde als Funktion des Spitze-Oberflächen-Abstandes (Abb. 2A). Die Annäherung der Spitze führt zu einer Variation von Δf (durchgezogene Linie in Abb. 2A), die typisch für eine Lennard-Jones-artige Wechselwirkung zwischen Spitze und Probe ist. Am Punkt A angelangt, beginnt das Zurückziehen der Spitze. Der Verlauf von Δf (gestrichelte Linie) ist anders als bei der Spitzenannäherung und weist auf das Anheben der Graphenlage hin. Am Punkt R fällt Graphen zurück auf die Oberfläche, so dass Δf für größere Abstände nun wieder mit den Daten der Annäherung übereinstimmt. Das Δf-Verhalten bei negativer Spannung weicht deutlich ab, da keine Schleife  entsteht, d.h. die Δf-Daten bei Annäherung und beim Zurückziehen der Spitze stimmen überein; die Au-C-Bindung ist zu schwach für das Lösen der Graphenlage von der Oberfläche. Die Breite δ der Δf-Schleife kann durch die Spannung U festgelegt werden (Abb. 2B) und zeigt, dass die Einzelatom-Bindung stark genug sein kann, um Graphen mehr als 600 pm von der Oberfläche zu heben.

Abbildung 2: (A) Veränderung der Resonanzfrequenz Δf der Kraftsonde mit der Spitzenverschiebung zur Oberfläche (von links nach rechts) und weg von ihr (von rechts nach links). Für positive Spannung ist ein ausgeprägtes Schleifenverhalten von Δf zu beobachten. Die Schleife erstreckt sich von Punkt A, wo das Zurückziehen der Spitze mit verankertem Graphen beginnt, bis zum Punkt R, an dem Graphen von der Spitze gelöst wird. (B) Schleifenbreite δ als Funktion von der Spannung U.

Der physikalische Mechanismus, der den Beobachtungen zugrundeliegt, konnte durch Fachleute im Bereich der Nichtgleichgewicht-Green-Funktionen und Dichtefunktionaltheorie ergründet werden. Das elektrische Feld in der Kavität zwischen Spitze und Probe ist imstande, Ladungen in der polaren Au-C-Bindung zu verschieben (Abb. 3A) und dadurch ihre Stärke zu kontrollieren. Ein elektrisches Feld, das zur Spitze zeigt (Abb. 3B) reduziert die Elektronendichte am Au-Atom und häuft sie an am C-Atom, woraus eine verstärkte Bindung resultiert. Die entgegengesetzte Feldorientierung (Abb. 3C) schwächt die Bindung.

Abbildung 3: Simulationen quantifizieren den Elektronentransfer vom Au- zum C-Atom als Funktion von der Spannung U (A) und zeigen die feldinduzierte Anhäufung und Reduzierung der Elektronendichte an den atomaren Reaktionspartnern (B), (C). Der vertikale Pfeil stellt die Orientierung des elektrischen Feldes dar.

Welche Bedeutung hat die geschilderte Arbeit? Am wichtigsten ist die Erkenntnis, dass durch die Kombination aus prototypischen atomaren Kontaktgeometrien im Experiment und modernen Simulationen neue physikalische Phänomene beobachtet und erklärt werden können. Aus nanotechnologischer Sicht kann ein Nutzer in der makroskopischen Welt einfach durch das Einstellen einer elektrischen Spannung die Stärke der Bindung zwischen zwei einzelnen Atomen festlegen. Die Anwendungen sind vielfältig. Beispielsweise werden in zukünftigen Experimenten Flocken zweidimensionaler (2D) Materialen durch die geschilderte Methode transportiert und auf andere 2D-Materialien mit einem bestimmten Drehwinkel abgelegt. Stapelungen von 2D-Materialien, die nur eine schwache van-der-Waals-Wechselwirkung untereinander spüren, bieten eine durch den Drehwinkel bestimmte Vielfalt von faszinierenden Phasen kondensierter Materie. Wir schreiten weiter in der Quanten-Konstruktion der Materie und versuchen bestmöglich, die Ideen Richard Feynmans aus dem Jahr 1959 zu realisieren.