„Wir analysieren alle Signale des Körpers“

Interview mit Prof. Patrique Fiedler darüber, wie medizinisch akkurate Geräte für tägliche Heimanwendungen uns Aufschluss über unseren Gesundheitszustand geben und welche Rolle die so genannten multimodalen Daten dabei spielen | März 2022

Mit seiner Erfindung, einer Haube zur Messung der Gehirnaktivität auf Basis trockener Elektroden, gelang Professor Patrique Fiedler ein großer internationaler Erfolg. Die Haube kommt heute nicht nur in Krankenhäusern auf der ganzen Welt, sondern auch auf der chinesischen Raumstation zum Einsatz. Seit letztem Jahr leitet der junge Professor ein neues Fachgebiet an der Technischen Universität Ilmenau, das die Entwicklung handlicher Geräte zur medizinischen Diagnostik vorantreibt. Im Interview erklärt er, wie medizinisch akkurate Geräte für tägliche Heimanwendungen uns Aufschluss über unseren Gesundheitszustand geben und welche Rolle die so genannten multimodalen Daten dabei spielen.
 

Guten Tag Professor Fiedler, nach drei Jahren in der Industrie sind Sie an die TU Ilmenau zurückgekehrt, um ein neues Fachgebiet zu leiten. Was hat Sie zu diesem Schritt motiviert?

Schon während meiner Promotionszeit habe ich sehr anwendungsorientiert mit Industriepartnern gearbeitet. Ich hatte schon immer das Interesse, dass das, was ich entwickelt habe, in Produkte umgesetzt wird. Für meine Dissertation und weitere Projekte ist dies auch gelungen. Während meiner Zeit in der Industrie habe ich weiter sehr eng mit wissenschaftlichen Partnern zusammengearbeitet und war als Gastwissenschaftler an mehreren Universitäten tätig. In dieser Zeit habe ich festgestellt, dass ich noch eine Menge Ideen habe, wie die EEG-Technologie auf Basis trockener Elektroden weiter verbessert und in Kombination mit zusätzlichen Sensoren ergänzt werden kann. Diese Konzepte sind in der Industrie noch nicht in der Entwicklung und benötigen viel Grundlagenforschung. Ich wollte diese Forschungen und Technologien gerne selbst aktiv vorantreiben.
 

Mit was befasst sich Ihr neu geschaffenes Fachgebiet „Datenanalyse in den Lebenswissenschaften“?

Lebenswissenschaften sind ein sehr umfassendes, interdisziplinäres Forschungsgebiet, das die Medizintechnik, aber auch die Biologie, die klassische Medizin und die Ernährungswissenschaften einschließt - alle Wissenschaften, die sich im weitesten Sinne mit biologischen Objekten beschäftigen. Unser Schwerpunkt dabei ist der Mensch. Wir analysieren alle Signale, die man am Körper aufzeichnen kann. Das können zum Beispiel Herzaktivität, Gehirnaktivität, Muskelaktivität, Blutzirkulation oder Atmung sein. Ein Schwerpunkt meines Fachgebiets ist die multimodale Datenanalyse. Das bedeutet, wir analysieren nicht alle diese Signale einzeln, sondern versuchen sie zu kombinieren und daraus zusätzliche Informationen zu gewinnen.
 

Das bedeutet, Sie entwickeln entsprechende Geräte zur Messung biologischer Signale des Körpers?

Heute fließt die Medizintechnik viel mehr in das tägliche Leben mit ein als früher. Jeder kennt zum Beispiel Fitnessarmbänder und -uhren, die mit Sensoren ausgestattet sind. Nicht alle diese Geräte sind für medizinisch korrekte Messungen geeignet, aber in Zukunft wird es immer mehr Produkte für die tägliche Heimanwendung geben, die medizinisch korrekte und somit diagnostisch verwertbare Daten aufzeichnen sollen. Auch diese Geräte werden multimodale Daten sammeln. Zum Beispiel misst eine Smart Watch die Sauerstoffsättigung im Blut und zum Teil ein EKG. Wichtig für uns ist es, diese Daten gleichzeitig aufzuzeichnen, um sie entsprechend auswerten zu können. Wir decken dabei die komplette Entwicklungskette ab: Wir entwickeln Sensorik und bauen dann die Elektronik, die es uns ermöglicht, die Signale der Sensoren zu erfassen. Zuletzt entwerfen wir auch die dazugehörige Signalanalyse, die vorzugsweise in der Elektronik auf dem Sensor integriert wird. Man spricht in der Fachwelt von der sensornahen Datenverarbeitung. Wir möchten alles möglichst kompakt bauen, sodass man die Geräte später im täglichen Leben mit sich tragen kann.
 

Medizinische Geräte für den Alltag werden also besonders handlich und benutzerfreundlich?

Das ist unser Ziel. Wir konzentrieren uns nicht darauf, die Medizintechnik nur für Krankenhäuser weiterzuentwickeln, sondern medizinisch akkurate Geräte für tägliche Anwendungen zu ermöglichen. Damit sollen diagnostische Langzeitanalysen ermöglicht werden. Die Ärzte können so Informationen gewinnen, die im Krankenhaus schwieriger zu erfassen sind. Ein Patient im Krankenhaus benimmt sich anders, die Umgebung ist ungewohnt - sowohl mental und physisch treten im Tagesablauf Unterschiede zum Alltag auf. Wir wollen kleine kompakte Sensorik entwickeln, die wir vernetzen können, man nennt das Body-Sensor-Netzwerke, um im täglichen Leben Gesundheits-Monitoring zu ermöglichen. Wenn sich der Patient in seiner normalen Umgebung bewegt, soll er diese Sensorik nicht wahrnehmen. So können Trigger für Krankheiten wie Epilepsie in der täglichen Umgebung analysiert werden.
 

Wie wird ein solches Gerät künftig aussehen?

Es gibt verschiedene Ansätze je nach Anwendungsgebiet. Das können Uhren oder in Brillen eingebaute Headsets sein, aber auch intelligente Kleidung, in die Sensorik integriert ist.
 

Welche Diagnose-Anwendungen eröffnen sich durch Ihre Forschung?

Aktuell arbeiten wir in zwei EU-Projekten mit internationalen Partnern. Im „INFANTS-Projekt" zum Beispiel an Anwendungen wie der Diagnostik bei Neugeborenen. Wir messen die Sauerstoffsättigung sowie elektrophysiologische Hirnaktivität. Das findet schon regulär in Kliniken Anwendung, aber oft nicht in dieser Kombination. Mit unserem System sollen beide Parameter häufiger im Zusammenhang überprüft werden, um etwa Entwicklungsprozesse beim Gehirn eines Neugeborenen engmaschiger überwachen und pathologische Abweichungen sehr frühzeitig entdecken und behandeln zu können. Dieses Prinzip baut auf den trockenen Elektroden auf.

Ein weiteres Projekt „EMBRACE" fokussiert sich auf das multimodale Monitoring im Sport. Hier wird die Interaktion zwischen Sportlern beobachtet. Wir versuchen Maße zu finden, die es uns ermöglichen, den Trainingseffekt auf die Leistung der Sportler vorhersagen zu können: Ist es besser, kompetitiv oder kooperativ zu trainieren, um sich auf einen Wettkampf vorzubereiten. Dafür messen wir verschiedene physiologische Biosignale.


Mit Ihrer Dissertation, in der Sie eine Haube zur Messung der Gehirnaktivität mit Hilfe trockener Elektroden entwickelt haben, haben Sie einen wissenschaftlichen Durchbruch erreicht. Wie ging es danach weiter?

Die Haube ist weltweit als Produkt verfügbar. Er findet mittlerweile in vielen Einsatzgebieten Anwendung. Harley Davidson hat eine EEG-Studie durchgeführt, wie das Fahren von Motorrädern dazu beiträgt, dass die Fahrer sich mental entspannen. Die chinesische Raumfahrtagentur hat das System im Vergleich zu anderen EEG-Systemen getestet und dieses ist jetzt tatsächlich auf der chinesischen Raumstation im Einsatz. Studien in Großbritannien untersuchen die EEG-Technologie für medizinische Heimanwendungen, zum Beispiel bei Rehabilitationen nach einem Schlaganfall. Eine weitere Studie in den Niederlanden entwickelt die Haube für die Anwendung im Krankenwagen weiter, um sehr schnell Hirnfunktionsstörungen zu diagnostizieren. Mit der Berliner Charité und einem Netzwerk von Krankenhäusern in dieser Region habe ich zusammengearbeitet, um Tele-EEG's durchzuführen. Es gibt zum Beispiel Kliniken in Brandenburg, die keine Experten in der Neurologie haben- aber gerade bei Akutfällen wie Schlaganfällen ist eine schnelle, gute und akkurate Diagnostik notwendig. Diese Kliniken auf dem Land können mit Hilfe eines Trocken-EEG-Systems schnell diagnostizieren. Die Experten in der Charité können per Fernzugriff dieses EEG überwachen und die Diagnose unterstützen.

Mit einer Gruppe von Wissenschaftler aus Spanien, Belgien und Nordamerika sind wir auf dem Gebiet des EEG-Monitorings in der Raumfahrt aktiv und haben das Anwendungspotenzial von Trocken-EEG auf langfristigen Raumfahrtmissionen untersucht. Es ist bekannt, dass die mentalen kognitiven Fähigkeiten von Astronauten während Missionen im All abnehmen. Mit Hilfe dieser Überwachung können Gegenmaßnahmen eingeleitet werden - zum Beispiel um mit mentalem Training diese Prozesse zu verlangsamen oder aufzuhalten. Trockene Elektroden sind hier ein Schlüsselelement, da klassisches Gel-EEG in der Schwerelosigkeit nicht anwendbar ist.


Neben medizinischer Diagnostik sollte die Haube es Menschen mit Prothesen ermöglichen, diese mit ihren Gedanken zu steuern. Konnten Sie diese Anwendung realisieren?

Diese Gedankensteuerung nennt man auch Brain-Computer-Interfaces (BCI). Diesen Ansatz verfolge ich weiter, jedoch waren die Versuche nach meiner Dissertation noch nicht so erfolgreich, dass man diese Technologie auf den Markt bringen kann. Bei einzelnen Probanden funktionieren die BCI sehr gut, bei anderen Anwendern aber ist es sehr schwierig. Wir erforschen gerade, warum das so ist. Daher gehen wir erst einmal einen Schritt zurück und messen und werten die verbleibende Signalaktivität in den Muskeln aus. Demnächst wollen wir die Elektrodentechnologie, die ich im Rahmen meiner Dissertation entwickelt habe, auf Muskeln übertragen. Mit Partnern aus Frankreich und Italien soll diese Technologie genutzt werden, um bei Amputationen die Muskelaktivität auf dem noch vorhandenen Glied abzuleiten. Diese Patienten können mental Bewegungen des Körperteils ausführen, man nennt das auch Phantom-Gliedmaßen. Sie haben das Gefühl, sie können das abgetrennte Körperteil noch bewegen. Das Gehirn hat diese Fertigkeiten trainiert, das heißt die Signale werden immer noch zum Körperteil übertragen. Die Nervenenden enden im verbleibenden Stumpf. Die entstandenen Potenzialverteilungen können wir messen und nutzen, um mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz Prothesen zu steuern und die gewollte Bewegung ausführen. Dieser Ansatz ist erfolgsversprechender und wir können uns vorstellen, schneller ein System zu entwickeln, das in den Markt eingeführt wird.
 

Wie wichtig sind internationale Kooperationen für Ihre Arbeit?

Wir arbeiten sehr eng mit den Fachgebieten an der TU Ilmenau und internationalen Partnern z.B. in Italien, Portugal, Spanien oder Belgien zusammen. Diese Zusammenarbeit ist für uns als kleine Universität ein Schlüssel für unsere Forschung. Wir entwickeln die Technologie, aber das ist oft nicht allein möglich: Was sind die technischen Anforderungen der Systeme? Was ist für den Nutzer akzeptabel an Größe und Gewicht? Hierzu brauchen wir das Feedback der Endanwender und müssen unsere Technologie testen und die Signale aufzeichnen, um aus diesen Schlüsse ziehen zu können. Wir benötigen sehr viele Probandendaten und dafür brauchen wir internationale Partner, die uns unterstützen. Zudem ist unsere Disziplin sehr interdisziplinär ausgelegt. Darunter fallen Materialwissenschaften, Maschinenbau, Elektrotechnik, Biosignalanalyse, Informatik. Ein einzelnes Fachgebiet kann nicht auf allen diesen Gebieten eine hohe Expertise aufbauen. Daher sind wir auf die Zusammenarbeit mit Partnern angewiesen, die Ihre eigene Expertise einbringen.
 

Welche Pläne haben Sie, Ihr Fachgebiet weiterzuentwickeln?

Wir wollen unsere aktuellen Forschungsprojekte erfolgreich vorantreiben und viele neue Projekte initiieren. Derzeit stellen wir eine Menge Projektanträge. Natürlich konzentriere ich mich auf den Aufbau des Fachgebiets und möchte neben der Einwerbung von Forschungsprojekten mehr Mitarbeiter für uns gewinnen. Ich möchte das Fachgebiet verstetigen. Aktuell handelt es sich um eine Juniorprofessur, die mit dem Tenure-Track-Programm des Bundes finanziert wird. Zudem möchte ich die neuen Sensorik-Ansätze in die Lehre einbringen und junge Studierende für diese Technologien begeistern, die in Zukunft vielleicht auch aktiv an den Forschungsprojekten mitarbeiten oder die Technologien in der Praxis einsetzen werden.

 

Das Interview führte Eleonora Hamburg.

 

Patrique Fiedler studierte Elektrotechnik und Informationstechnik an der TU Ilmenau und promovierte 2017 im Fachgebiet Biomedizinische Technik. In seiner ausgezeichneten Dissertation entwickelte er eine neuartige Haube zur Elektroenzephalographie (EEG), die auf Basis trockener Elektroden Gehirnaktivitäten misst. Im Anschluss wechselte er von 2017 bis 2021 in die Industrie und nahm bei einem international tätigen Medizintechnikhersteller verschiedene Entwicklungs-, Projekt- und Produktmanagement-Tätigkeiten war. Darüber hinaus war Patrique Fiedler mehrfach als Gastwissenschaftler an der Universität Porto in Portugal und der Universität Pescara-Chieti in Italien tätig. Seit 2021 ist Patrique Fiedler Juniorprofessorund Leiter des Fachgebietes "Datenanalyse in den Lebenswissenschaften" am Institut für Biomedizinische Technik und Informatik der Fakultät für Informatik und Automatisierung.