Reportage

„Manche haben schon im sechsten Semester ihren Traumjob gefunden“

Isabel, Maik und Natalie studieren Biotechnische Chemie im vierten Semester. Ziel des interdisziplinären Studiengangs ist es, den Studierenden Fachkenntnisse und Schlüsselkompetenzen in der modernen Chemie mit dem Schwerpunkt chemischer Anwendungen in der Systementwicklung und der Biotechnologie zu vermitteln und sie anzuleiten, nach wissenschaftlichen Methoden selbstständig zu arbeiten. Dabei ist die Technische Universität Ilmenau die einzige Universität bundesweit, die diese Kombination aus Chemie, Biologie und Ingenieurwissenschaften seit 2013 anbietet. „Aber auch die Praktika, das heißt sowohl ihr Umfang als auch die Art der Synthesen, die wir im Labor durchführen können, machen unseren Studiengang zu etwas Besonderem“, erklärt Student Maik Seemann. UNIonline hat Maik und seine Mitstudierenden einen Tag lang bei ihrem Laborpraktikum begleitet.

Student mit Kittel und Gesichtsvisier am Abzug des Chemielabors
Bachelorstudent Maik Seemann an einem der Abzüge des Chemielabors: Heute hat er sich vorgenommen, Schweinfurter Grün zu synthetisieren

Dienstag, 10 Uhr, Chemielabor im Heliosbau der TU Ilmenau. Zwölf Studentinnen und Studenten im 4. Semester des Studiengangs Biotechnische Chemie haben sich auf ihre Laborplätze verteilt. Auf dem Programm steht heute das Praktikum „Organisch-Anorganische Synthesechemie“, kurz OC3, das anspruchsvollste Praktikum im Bachelorstudium Biotechnische Chemie, auch Inertgaspraktikum genannt – und eines der spannendsten noch dazu. Drei Tage pro Woche arbeiten die Studierenden dabei Seite an Seite, präparieren anorganische und metallorganische Substanzen und führen Katalysen und Synthesen durch, bei denen aus einzelnen chemischen Elementen eine Verbindung oder aus einfach gebauten Verbindungen ein neuer Stoff hergestellt wird. Darunter zum Beispiel Katalysatoren, Farb- und Aromastoffe oder fluoreszente Verbindungen, die teilweise auch in der Industrie und im Alltag Verwendung finden.

„Die meisten Synthesen finden in diesem Praktikum unter Reaktionsbedingungen im Temperaturbereich von -196 bis 1100°C oder unter Einleitung von Gasen statt“, erklärt Dr. Eric Täuscher, der die Studierenden gemeinsam mit zwei Laborantinnen und einer Promotionsstudentin begleitet. Einige der Experimente werden auch im Zweierteam durchgeführt. „Von einfach bis sehr anspruchsvoll können die Studierenden dabei Präparate aus einer umfangreichen Liste auswählen.“ Für einen erfolgreichen Abschluss müssen sie am Ende aber nicht nur ihr theoretisches Wissen, sondern auch ihre 'handwerklichen‘ Fähigkeiten unter Beweis stellen. „Zum Praktikum gehören auch ein benoteter Vortrag über ein organisches Themengebiet, Kolloquien und natürlich ein ordentliches Laborjournal und Abschlussprotokoll“, so Dr. Täuscher.

Napoleon, Arsen und Schweinfurter Grün

Bereits seit 8 Uhr morgen steht auch Bachelorstudent Maik Seemann im Labor. Heute hat er sich vorgenommen, Schweinfurter Grün zu synthetisieren, auch Pariser Grün, Patentgrün oder Mitisgrün, genannt, das heißt Kupfer(II)-arsenitacetat, ein so genanntes Doppelsalz, das Kupfer, Arsen und Essigsäure enthält. „Das ist das Tolle an diesem Praktikum“, erklärt der 20-Jährige. „Hier erhalten wir die Chance mit Chemikalien zu arbeiten, die nicht in den alltäglichen Laborgebrauch fallen.“

Schweinfurter Grün fand im 19. Jahrhundert wegen seiner Farbintensität und Lichtechtheit vor allem als Farbe in der Malerei Verwendung. „Allerdings war es auch schon früh als sehr giftig bekannt“, weiß Maik Seemann. „So soll beispielsweise Napoleon durch Arsen ums Leben gekommen sein“. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurde es als eines der ersten Pflanzenschutzmittel eingesetzt.

Auch das macht das Praktikum für die Studierenden zu etwas Besonderem: „Dieses Praktikum birgt potentiell das größte Gefahrenpotential aller Praktika in der Organischen Chemie“, so Dr. Täuscher. „Allerdings sind die Studierenden natürlich jetzt auch erfahren genug, um mit solchen Stoffen verantwortungsvoll zu arbeiten.“

„Auch das passiert im Labor: Dass etwas nicht klappt, wie man möchte.“

Zur Herstellung des Schweinfurter Grüns hat Maik Seemann zunächst eine Natriumarsenit-Lösung, also eine Lösung von Natriumcarbonat, Arsen(III)-oxid in Wasser, bei 90 Grad erhitzt. Jetzt misst er sorgfältig Kupfer(II)sulfat ab, löst es in Wasser und gibt es der Lösung zu. So entsteht zunächst ein schmutzig grüner, flockiger Niederschlag. Diesen löst er anschließend mit Säure. „In der Regel geschieht das Lösen mit Essigsäure“, erklärt der junge Chemiker. Heute probiert er jedoch eine andere Vorschrift, die er sich selbst herausgesucht hat. Nach ihr wird das Grün mit Ameisensäure gelöst. „Anschließend muss das Ganze noch für zwei Stunden bei 90 Grad gehalten werden, so dass sich nach dem Abkühlen – hoffentlich – große Kristalle bilden.“ Es ist nicht das erste Mal, dass er versucht, das Schweinfurter Grün zu synthetisieren: „Der erste Anlauf hat nicht funktioniert. Da haben wir keine farbigen Kristalle erhalten. Auch das passiert im Labor: Dass etwas nicht klappt, wie man möchte. Dann muss man es eben nochmal probieren“, so Maik Seemann. Und Dr. Täuscher ergänzt: „Die Studierenden sollen, wenn sie etwas mit einem Apparat tun, versuchen zu verstehen, was genau sie da tun und vor allem warum. Und wenn sie merken, dass ein Fehler auftritt, können sie sich auch behelfen und wissen, wie sie das Problem beheben können.“

Diesmal scheint das Experiment von Maik Seemann jedoch zu funktionieren. Während sich der junge Mann der Dokumentation seiner Synthese im Laborjournal widmet, wird im Außenlabor auf dem Hof Salpetersäure abgedampft. Damit sie nicht in die Umwelt gelangt, wird sie direkt mit Natriumcarbonat neutralisiert. Genutzt wird das Außenlabor für Aufbauten, die viel Platz benötigen oder sehr große Hitze produzieren, um so die Brandgefahr zu minimieren.

Das heutige Praktikum ist das dritte organisch-chemische Praktikum der Studierendengruppe, wobei es prinzipiell für jedes einzelne Fach im Studiengang auch ein Praktikum gibt. „Jedes Praktikum findet im Durchschnitt zwei- bis dreimal die Woche statt, wobei wir uns die angebotene Laborzeit nach Bedarf selbst einteilen können. Es gibt keine Anwesenheitspflicht, und wir können auch einen Tag lang einfach mal nur beobachten.“ In der Regel ist das Labor mit zwölf von zwölf Plätzen jedoch immer vollbesetzt. Auch während der Corona-Pandemie konnten alle organisch-chemischen Praktika regulär stattfinden, wenn auch unter erhöhten Infektionsschutzvorkehrungen. So tragen seitdem beispielsweise alle Studierenden zusätzlich zur Schutzbrille und einer Maske auch ein Gesichtsvisier, das sich auch jenseits von Corona als praktisch für die Laborarbeit erweisen hat.

„Wenn Sie Corona begegnen wollen, brauchen Sie Biotechnische Chemie“

Und noch etwas hat die Corona-Pandemie deutlich gemacht, weiß Dr. Täuscher: „Wenn Sie Corona oder irgendeiner Pandemie begegnen wollen, brauchen Sie Biotechnische Chemie: Sie brauchen biologische Anwendungen, sie brauchen Technik – und wenn es nur diese Selbsttest-Kits sind – und sie brauchen die Chemie, zum Beispiel für die Wirkstoffe. Das heißt alles, was wir hier unterrichten, wird auch zur Pandemiebekämpfung gebraucht.“ So gibt es beispielsweise einen Studenten im 6. Semester, der gerade sein dreimonatiges Forschungs- und Industriepraktikum bei Biontech macht. Dr. Täuscher: „Daran sieht man schon: Das ist etwas, was Zukunft hat und die Berufsaussichten, beispielsweise im Sektor LifeScience oder Nanotechnologie, sind auf lange Sicht exzellent. Denn Corona wird ja leider wahrscheinlich nicht die letzte Pandemie gewesen sein.“

Auch die neue Professur für „Biotechnische Mikro- und Nanosysteme in den Lebenswissenschaften“, die am 1. Oktober 2020 mit der international renommierten Biophysikerin Prof. Dr. Doris Heinrich besetzt wurde, die zugleich Direktorin des Instituts für Bioprozess- und Analysenmesstechnik (iba) in Heiligenstadt ist, einem An-Institut der TU Ilmenau, wird den Studiengang in diese Richtung bereichern, ist sich Dr. Täuscher sicher.

Diese Zukunftsperspektive war es auch, die Maik Seemann bei seiner Entscheidung für ein Studium der Biotechnischen Chemie mit beeinflusst hat. „Ich komme aus Thüringen und klar wollte ich auch gerne in der Nähe bleiben. Ich wollte aber auch ein naturwissenschaftliches Studium machen, bei dem von allem etwas dabei ist: Biologie, ein bisschen Technik und auch Chemie. Da passte Biotechnische Chemie natürlich gut, und das kann man eben nur hier in Ilmenau studieren.“

„Man hat ein viel engeres Verhältnis mit allen Leuten hier“

Seine Kommilitonin Isabel Eulenberger hatte zuvor bereits ein Jahr lang Chemie auf Lehramt in Jena studiert, bevor sie nach Ilmenau kam. „Weil auch ich in Thüringen bleiben, aber nur noch Chemie studieren wollte, ist mir der Studiengang an der TU Ilmenau aufgefallen, und das fand ich total spannend, denn in einem normalen Chemiestudium hat man gar nicht so hohe Bioanteile.“ In Ilmenau begeistert sie zudem die familiäre Atmosphäre an der Uni: „Man hat ein viel engeres Verhältnis mit allen Leuten hier: mit den Kommilitonen und mit Herrn Dr. Täuscher, aber auch mit den anderen Professoren. Es ist einfach eine viel bessere Betreuung.“

Natalie Burbach kommt von etwas weiter her, aus Mannheim. Auch sie wollte gerne eine „Mischung“ studieren und erkundigte sich bei der Berufsberatung nach entsprechenden Angeboten. „Ich wollte Biologie, ich wollte Chemie und auch noch irgendwie andere Naturwissenschaften drin – und das alles am besten mit Berufszukunft. Da hat man mir die TU Ilmenau und den Studiengang Biotechnische Chemie vorgestellt.“

Heute ist sie vor allem über den Biologieanteil in ihrem Studium glücklich: „Gerade im vierten Semester ist es super, denn jetzt kommt zum Beispiel Bioprozesstechnik und später dann beispielsweise Molekularbiologie und das Molekularbiologisch-Biochemische-Praktikum. Aber auch in OCI, also Organischer Chemie, und Chemie allgemein wird man gut ausgebildet. Ich bin super zufrieden.“

Nach dem Bachelorabschluss möchte sie wie auch Maik Seemann auf jeden Fall noch ihren Master absolvieren, am liebsten an der Schnittstelle zwischen Biologie und „OCI“, ihren beiden Lieblingsgebieten. Was genau sie danach damit machen möchten, wissen die beiden noch nicht: „Es gibt mehrere Möglichkeiten, was man nach dem Studium machen kann: Man könnte natürlich in die Forschung gehen, an der Uni oder einem Institut, oder in die Industrie.“ Seine Kommilitonin Isabel hat schon etwas konkretere Vorstellungen: „Auch wenn ich weiß, dass die Anforderungen an eine Promotion in der Biotechnischen Chemie knallhart sind, würde ich gerne auch noch meinen Doktor an der TU Ilmenau machen, um anschließend Dozentin zu werden und damit auch wieder an mein Lehramtstudium anzuknüpfen.“

Forschungsbezug von Anfang an

Diese Begeisterung und das Engagement der Studierenden für ihr Fach kommt auch bei Eric Täuscher an: „Tatsächlich sind die Frauen häufig sogar noch zäher als die Männer, weshalb das Geschlechterverhältnis bei uns im Studiengang in höheren Semestern fast ausgeglichen ist.“ Dennoch ist gerade diese Studierendengruppe etwas Besonderes in seinen Augen: „Ich hatte es in 17 Jahren Lehre noch nie, dass ich eine größere Studierendengruppe zwingen musste, ihr Praktikum zu beenden oder das Labor zu verlassen. Und auch bei den nächsten, die nachkommen, scheint es wieder so zu sein.“

Sowohl Maik als auch Isabel und Natalie arbeiten schon jetzt auch als wissenschaftliche Hilfskräfte an der Fakultät für Mathematik und Naturwissenschaften. „Als Hiwis sind wir immer auch schon in die Forschung mit einbezogen“, erklärt Maik Seemann. „Aber auch die Bachelorarbeit ist hier an der Uni immer forschungsorientiert, das heißt wir tüfteln etwas Neues aus, das vorher noch niemand gemacht hat.“ Kurz davor haben die Studierenden außerdem Gelegenheit, im Rahmen eines Industrie- oder Forschungspraktikums auch die Berufspraxis kennenzulernen. „Manche haben so schon im 6. Semester ihren Traumjob gefunden“, weiß Dr. Täuscher.

„Wir sind Kommilitonen, wir sind Freunde und im Praktikum Mitstreiter.“

Im Master steht für Isabel, Maik und Natalie dann unter anderem das Naturstoffpraktikum auf dem Plan. Dabei wird auch mit Waid experimentiert, dem „Blauen Wunder“, der das Wirtschaftsleben Thüringens im 13. bis 16. Jahrhundert prägte. Auch dann heißt es wieder drei Tage pro Woche 8 Stunden am Tag mit elf anderen Studierenden zusammen Seite an Seite arbeiten. Wird das nicht manchmal zu viel? „Nein“, sagt Maik Seemann: „Das mit der Teamarbeit fängt bei uns ja schon im ersten Semester an. Da geht es vielleicht noch, wenn man alles alleine macht. Aber spätestens hier, in der Organischen Chemie, arbeitet man zusammen am Abzug und muss sich zwangsläufig austauschen und absprechen. Diese Teamarbeit erleichtert einem einfach alles, natürlich auch, sich besser kennenzulernen und zu verstehen.“

Genau diese Erfahrung hat auch Natalie gemacht: „Wir sind Kommilitonen, wir sind Freunde und im Praktikum Mitstreiter.“ Und ihre Freundin Isabell ergänzt: „An anderen Universitäten ist man eine Nummer, hier hat man einen Namen: Jeder kennt jeden hier auf dem Campus. Ich glaube, ich habe noch nie alleine in der Mensa gegessen.“ Auch nach dem Praktikum unternehmen die Drei häufig etwas zusammen mit ihren Mitstudierenden: Fahrradtouren, Wandern, Volleyball spielen, ins Freibad gehen oder zusammen kochen. „Auch das ist ja fast wie Chemie!“, lacht Natalie. „Nur dass man beim Kochen auch mal den Löffel ablecken darf.“

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Inhalte des Studiengangs Biotechnische Chemie

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Dr. rer. nat. Eric Täuscher

Institut für Chemie und Biotechnik / Organische Chemie