Forschung

Automatisierte Kleinbusse im „Living Lab“

Noch in diesem Jahr werden in der Goethe- und Universitätsstadt Ilmenau die ersten automatisierten Kleinbusse den Fahrgastbetrieb aufnehmen. Das Thüringer Innovationszentrum Mobilität (ThIMo) an der Technischen Universität Ilmenau begleitet die Umsetzung hochautomatisierten Fahrens im öffentlichen Nahverkehr im Rahmen einer Familie von Forschungsprojekten mit Schwerpunkten in der Funk- und Fahrzeugtechnik sowie der Technologieakzeptanz.

ThIMo
Dynamischer Fahrsimulator zur Untersuchung der Fahrdynamik und des Fahrkomforts

Nicht erst seit Teslas Autopilot beschäftigen fahrerlose Fahrzeuge die Öffentlichkeit. Bereits in den 90er-Jahren stattete der deutsche Professor Ernst Dickmanns, der heute als Pionier im Bereich autonomer Fahrzeuge gilt, das erste „Roboterauto“ mit Kameras und Sensoren aus. Diese versorgten es mit Daten über seine Umgebung und den Verkehr und ermöglichten ihm damit, seine Teststrecke ohne menschlichen Fahrer zurückzulegen. Während Fahrerassistenzsysteme der Automatisierungsstufen 0 bis 2 (nach SAE International) wie der Tempomat, die Einparkhilfe oder der Spurhalteassistent viele Autofahrer bereits täglich unterstützen, sind tatsächlich „selbstfahrende“ Autos im Alltag noch immer keine Selbstverständlichkeit. Mit einem neuen Gesetz zum autonomen Fahren kann sich dies jedoch bald ändern: Seit Juli 2021 dürfen hochautomatisierte Fahrzeuge der Automatisierungsstufe 4 in Deutschland in festgelegten Betriebsbereichen im öffentlichen Personennahverkehr erstmals ohne Sicherheitsfahrer in den Regelbetrieb aufgenommen werden.
 

Die Norm SAE J3016 der SAE International unterscheidet sechs Stufen der Automatisierung:
 

Stufe 0: Keine Automation – Der Fahrer fährt eigenständig, ggf. mit unterstützenden Systemen (z.B. Spurhaltewarnsystem ohne Lenkunterstützung).

Stufe 1: Assistenzsysteme – Die Fahrzeugbedienung wird durch ein Fahrassistenzsystem unterstützt (z.B. Spurhalteassistent mit Lenkunterstützung oder Abstandsregeltempomat).

Stufe 2: Teilautomatisierung – Die Fahrzeugbedienung wird durch ein oder mehrere Fahrassistenzsysteme unterstützt (z.B. Spurhalteassistent mit Lenkunterstützung und Abstandsregeltempomat).

 

Stufe 3: Bedingte Automatisierung – Das Fahrzeug fährt automatisiert, aber der Fahrer muss auf Anforderung eingreifen.

Stufe 4: Hochautomatisierung – Automatisierte Führung des Fahrzeugs ohne menschliches Eingreifen unter eingeschränkten Bedingungen.

Stufe 5: Vollautomatisierung – Vollständig autonome Führung des Fahrzeugs ohne menschliches Eingreifen unter allen Bedingungen.

 

Potentiale und Forschungsbedarfe

Der vermehrte Einsatz autonomer Fahrzeuge im ÖPNV und ihre Vernetzung mit der Verkehrsinfrastruktur könnte zukünftig die Verkehrsdichte in Innenstädten reduzieren, was nicht nur verringerte Fahrzeiten, sondern auch geringere Emissionen mit sich bringen würde. Die Bevölkerung im ländlichen Raum könnte zudem von einer flexibleren Routen- und Fahrzeitplanung durch den Einsatz selbstfahrender Shuttles auf der sogenannten „letzten Meile“ profitieren.  Mit dem großen Potential, die Mobilität der Zukunft flexibler, effizienter, sicherer, intelligenter und nachhaltiger zu gestalten, gehen allerdings noch viele unbeantwortete Fragen einher. Die Technologie hochautomatisierter Fahrzeuge muss sich in konkreten Einsatzszenarien und komplexen Situationen bewähren, bevor sie unser derzeitiges Verkehrskonzept maßgeblich verbessern kann. Wie versteht das autonome Fahrzeug, was sich an einer großen Kreuzung abspielt? Wie kann eine lückenlose Funknetzverbindung sichergestellt werden? Interdisziplinäre Projektteams am ThIMo beschäftigen sich mit genau diesen und weiteren wichtigen Fragen – unter Verwendung von Simulationsprogrammen am Computer, an Prüfständen im Labor und zunehmend auch direkt auf der Straße im realen Verkehr.
 

Die Projektfamilie „Automatisiertes Fahren im ÖPNV“: Campus-Bus, KREATÖR und P:Mover

Im Rahmen des „Campus-Bus-Projekts“ werden voraussichtlich diesen Sommer zwei nach Stufe 3 automatisierte Elektrobusse des Herstellers EasyMile vom Typ EZ10 Generation 3 im Linienverkehr der IOV Ilmenau zwischen dem Bahnhof der Stadt Ilmenau und dem Campus der TU Ilmenau eingesetzt. Diese werden aus Zulassungsgründen zunächst noch von einem Sicherheitsfahrer begleitet. Die beiden Linienfahrzeuge werden für Forschungszwecke mit zusätzlicher Sensorik ausgestattet. Darüber hinaus wird den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des ThIMo ein drittes Forschungsfahrzeug zur Verfügung gestellt. Das Campus-Bus-Projekt wird vom Thüringer Ministerium für Umwelt, Energie und Naturschutz gefördert und vom Landkreis Ilm-Kreis und seiner Eigengesellschaft, der Ilm-Kreis Personenverkehrsgesellschaft mbH (IKPV), geleitet.

Im Projekt „KREATÖR – Funk- und Fahrzeugtechnologien für automatisierten Personentransport im öffentlichen Raum“ wird dieses neue Verkehrsangebot der Stadt Ilmenau und des Ilm-Kreises im Sinne eines Reallabors vom ThIMo mit Förderung durch das Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft wissenschaftlich begleitet. Ausgewählte Teststrecken werden zum Reallabor oder „living lab“, da die Erforschung neuer Mobilitätskonzepte nicht nur am Computer oder im Labor stattfindet, sondern auch im realen Verkehr, eingebettet in einen gesellschaftlichen Kontext. Vier Fachgebiete des fakultätsübergreifenden Instituts für Mobilitätsforschung widmen sich in diesem Projekt der Erforschung und Entwicklung innovativer Funk- und Fahrzeugtechnologien. Ein fünftes Fachgebiet beschäftigt sich mit der Risikowahrnehmung und Akzeptanz der Technologie bei Passagieren und in der medialen Öffentlichkeit. Obwohl bereits hochautomatisierte Kleinbusse an anderen Standorten in Deutschland und anderen europäischen Ländern eingesetzt wurden (u.a. Gera, Bad Birnbach, Hamburg), ist diese hochkarätige interdisziplinäre Begleitforschung und Weiterentwicklung in Ilmenau ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal.

Im jüngst gestarteten Projekt „P:Mover – Pionierregion: Mobilitätslösungen im suburbanen Raum vernetzen“, das im Rahmen des 5G-Innovationswettbewerbs des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr gefördert wird, soll der Einsatz nach Stufe 4 automatisierter Busse auf weiteren Strecken in der Pionierregion Ilmenau vorbereitet werden. Der Sicherheitsfahrer wird hier durch eine Leitstellenkontrolle mittels Funkverbindung ersetzt. Im Zentrum dieses Projekts steht der Auf- bzw. Ausbau des 5G-Mobilfunknetzes, um die spezifischen Potentiale der Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung für den Verkehrssektor zu erforschen. Dabei werden die Stadt Ilmenau und das ThIMo von der Funkwerk Systems GmbH und der Ginger Lehmann + Partner GmbH unterstützt. Alle drei Projekte stellen einzeln und in ihrer Kombination wichtige Schritte in der Entwicklung eines intelligenten, nachhaltigen und nutzerorientierten Verkehrs im Ilm-Kreis dar.

Mehrere Forschungsvorhaben des ThIMo unter Einbeziehung weiterer Thüringer Akteure der Mobilitäts- und Logistikforschung bauen auf diesen Projekten auf. Sie bilden nicht nur Kernelemente eines potentiellen Standortclusters für die Mobilität der Zukunft, sondern befördern auch einen Strauß von Maßnahmen zur Unterstützung der Transformation der Thüringer Automobil- und Zulieferindustrie.
 

Antriebsoptimierung und digitaler Zwilling

Damit sich autonome Shuttle-Busse optimal in den Verkehrsfluss integrieren können und maximale Reichweite pro Akkuladung erreichen, benötigen sie Antriebe, die möglichst gut an die Fahrstrecken angepasst sind, auf denen sie eingesetzt werden. Das Ziel des beteiligten Fachgebiets Kleinmaschinen besteht daher darin, den bestehenden Antrieb in einem präzisen Modell abzubilden, zu evaluieren und zu optimieren, um die Anforderung der Fahrstrecke, die auch unter Sicherheitsaspekten notwendige Dynamik und die Auslegung des Antriebs zu einem optimalen Kompromiss zu führen. In dem Zusammenhang befasst sich das Fachgebiet auch mit der Fragestellung, inwieweit verschieden ausgelegte spezialisierte Antriebe einen Vorteil gegenüber einer Variante bieten, die für einen universellen und weiten Einsatzbereich dimensioniert ist. Zu diesem Zweck können die Wissenschaftler auf einen separaten Motor gleicher Bauart mit Ansteuerungselektronik für ihre Forschungszwecke zurückgreifen. Dieser Motor wird im Laborprüfstand in Betrieb genommen, vermessen und in einem Simulationsprogramm modelliert. Nach Lieferung der Busse wird mit der hochpräzisen Messtechnik des Fachgebiets Fahrzeugtechnik ihr Fahrprofil aufgezeichnet. Mit Hilfe von Satellitennavigations-Daten wird die Strecke vermessen und samt Steigungen, Gefällen und Geschwindigkeiten digital nachgebildet. Auf Grundlage dieses Fahrprofils wird eine Simulation der Motorenleistungsfähigkeit durchgeführt. Dabei sollen die Parameter identifiziert werden, die den größten Einfluss auf die Antriebsleistung haben. Die Ergebnisse dieser Simulation werden anschließend mit Messungen am realen Motor im Prüfstand abgeglichen. Auf diese Weise kann der Antrieb hinsichtlich der skalierten Leistungsanforderungen letztlich optimal ausgelegt werden.

Das Fachgebiet Fahrzeugtechnik selbst nutzt das aufgezeichnete Fahrprofil für den modellhaften Aufbau eines kompletten „digitalen Zwillings“ des EasyMile EZ10 in einer leistungsfähigen Simulationsumgebung. Anstatt mit einem zusätzlichen Motor zu arbeiten wird das Forschungsteam das zur Verfügung gestellte Forschungsfahrzeug mit Messkomponenten ausrüsten, um es an einem dynamischen Fahrsimulator zu spiegeln. Auf diese Weise können die Wissenschaftler Daten über die Fahrdynamik (z.B. Bewegungen des Fahrzeugs beim Bremsen und Beschleunigen sowie Änderungen der Fahrtrichtung) sammeln, um Fahrsicherheit und Fahrkomfort beurteilen und relevante Einflussgrößen ermitteln zu können.


Vom automatisierten zum intelligent vernetzten Fahren

Damit die autonomen Kleinbusse alle Fahraufgaben selbstständig bewältigen können, müssen sie ihr dynamisch wechselndes Umfeld mit Kameras, Radar- und Lidarsensoren erfassen, um die eigenen Bewegungseigenschaften sowie die der anderen Verkehrsteilnehmern in Echtzeit beobachten und in sichere Fahrfunktionen übersetzen zu können. Diese Messtechnik kann die menschlichen kognitiven Fähigkeiten zur Erfassung einer komplexen Verkehrssituation derzeit noch nicht vollständig ersetzen. Vernetzt man die Fahrzeuge jedoch mittels Funktechnologien mit anderen Verkehrsteilnehmern und der Verkehrsinfrastruktur (Vehicle-to-everything bzw. V2X-Kommunikation), können sicherheitsrelevante Informationen, bspw. zu überraschend auftretenden Gefahren mit Unfallpotential, frühzeitig ausgetauscht werden. Dies erhöht nicht nur die Sicherheit, sondern optimiert auch den Verkehrsfluss und minimiert Partikel-, Geräusch- und Feldstärkeemissionen.

Um solche Lösungsansätze zu erproben und deren funktionale Sicherheit zu garantieren, müssten vernetzte Fahrzeuge vor ihrer Zulassung eigentlich Milliarden von Testkilometern fahren. Da dies unermessliche Ressourcen erfordern würde, sind die Zulassungsverfahren auf szenarienbasiertes Testen in virtueller Umgebung umgeschwenkt. Die ThIMo-FachgebieteHochfrequenz- und Mikrowellentechnik und Elektronische Messtechnik und Signalverarbeitung forschen daran, solche Testfahrten zu virtualisieren und im Labor nachzustellen. Auch hier kommt der digitale Zwilling wieder zum Einsatz. Durch zusätzlich verbaute Radarsensoren werden beispielsweise Sensordaten der Busse während der Fahrten aufgenommen und in einer besonderen virtuellen Messumgebung abgebildet. Die europaweit einzigartige Virtuelle Straße – Simulations- und Testanlage (VISTA), ist mit einem Antennensystem und umfassender Messtechnik für die virtuelle Verifikation und Validierung von KFZ-Radaren ausgestattet. Die Forschungsinfrastruktur wird derzeit durch eine Messeinrichtung zur Erweiterung der Antennenmessfähigkeit bis in den THz-Bereich (Mobilfunkgeneration 6G) und für die Aufnahme bi-statischer Radarquerschnitte mobiler Objekte erweitert. Bistatisches Radar beschreibt den im Verkehr immer wichtiger werdenden Fall, dass ein Verkehrsobjekt aus unterschiedlichen Richtungen beleuchtet und beobachtet wird. Diese objektspezifische winkelabhängige Wellenausbreitung zu verstehen ist eine der Grundvoraussetzungen, um autonomes Fahren zu kooperativem Fahren in einem intelligent vernetzten sicheren Verkehr weiterzuentwickeln.

Ein so vernetztes Mobilitätskonzept erfordert die gemeinsame Entwicklung von Verkehrs-, Daten- und Netzwerkinfrastrukturen. Damit der Sicherheitsfahrer nicht mehr mit an Bord sein muss, sondern von einer Leitstelle aus über Funk mit dem Fahrzeug verbunden sein und auf diese Weise im Prinzip sogar mehrere Fahrzeuge gleichzeitig betreuen kann, sollen im P:Mover-Projekt die neuesten Möglichkeiten des Mobilfunks genutzt werden, indem 5G-fähige Basisstationen an geeigneten Standorten entlang des Verkehrsgebietes eingerichtet werden. Diese gewährleisten insbesondere höhere Bandbreiten, niedrigere Latenzen und eine insgesamt höhere Zuverlässigkeit als ihre 4G-Vorgängersysteme.

 

Öffentliche Wahrnehmung und Akzeptanz

Da technologische Entwicklungen immer auch in einen gesellschaftlichen Kontext eingebunden sind, kann nur die Einbeziehung der Bevölkerung Aufschluss darüber geben, wie gut autonome Shuttle-Angebote den tatsächlichen Bedarf decken und auf Akzeptanz stoßen. Beides ist ausschlaggebend für eine nachgefragte Nutzung und damit einhergehende, nachhaltige Veränderungen im Verkehrssektor. Eine breite gesellschaftliche Debatte, bspw. auch hinsichtlich ethischer Fragen, bleibt bislang jedoch aus. Um dem entgegenzuwirken und die Bevölkerung Ilmenaus einzubeziehen, begleitet das Fachgebiet Public Relations und Technikkommunikation den Pilotbetrieb der automatisierten Kleinbusse mit kommunikationswissenschaftlichen Analysen von Risikowahrnehmung, Akzeptanz und Nutzungsbereitschaft in der Bevölkerung. Ein zentrales Forschungsinstrument bilden hier quantitative Befragungen, die jeweils vor und nach Einführung der Shuttles durchgeführt werden, um Erwartungen, Befürchtungen und Einstellungen zu vergleichen. Im Rahmen von Medieninhaltsanalysen werden zudem thematische Schwerpunkte und Bewertungen in der Berichterstattung untersucht, da diese einen meinungsbildenden Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung hat. Die Forschungsergebnisse können zum Beispiel wichtige Erkenntnisse im Bereich des erlebten Fahrkomforts für die ingenieurwissenschaftlichen Fachgebiete hervorbringen. Sie geben aber auch Aufschluss darüber, in welchen Bereichen noch Aufklärungsarbeit notwendig ist, damit die Bevölkerung Risiken und Chancen des autonomen Fahrens realistisch einschätzen kann. So kann auch regional ein gesellschaftlicher Diskurs geführt werden, um die Mobilität der Zukunft mitzugestalten.

Die interdisziplinäre wissenschaftliche Expertise und moderne Forschungsinfrastruktur des ThIMo sowie das Umfeld eines living lab in der Pionierregion Ilmenau bringen die besten Voraussetzungen für eine solche nutzerzentrierte Vorgehensweise mit und bergen großes Innovationspotential.

 

Weitere Informationen unter:  http://www.mobilitaet-thueringen.de/

Kontakt

Prof. Dr. Matthias Hein

Direktor Thüringer Innovationszentrum Mobilität