Forschung

Für sichere Energienetze: Wissenschaftler erforschen neuartige Assistenzsysteme

Durch immer mehr Windkraft- und Photovoltaikanlagen sind Energienetze stark ausgelastet. Um eine ausfallsichere Stromversorgung zu gewährleisten wollen Wissenschaftler des Fachgebiets Elektrische Energieversorgung bestehende Netze belastbarer für die Anforderungen der Energiewende machen. Im großangelegten Kopernikus-Projekt entwickeln sie das Energienetz der Zukunft mit.

TU Ilmenau
Unter Leitung von Prof. Dirk Westermann und Dr. Steffen Schlegel forschen Wissenschaftler am Fachgebiet Elektrische Energieversorgung an neuartigen Assistenzsystemen zur Überwachung und Optimierung der Energienetze.

„Unser Energienetz wird immer dynamischer und stellt Forschung und Industrie vor neue Herausforderungen“, weiß Dr. Steffen Schlegel, Oberingenieur am Fachgebiet Elektrische Energieversorgung der TU Ilmenau. Wurde Strom vor der Energiewende noch vorwiegend aus Braunkohle, Kernenergie oder Erdgas erzeugt und über einige wenige Kraftwerke dem Endverbraucher zur Verfügung gestellt, muss Energie heute aus zahlreichen Windkraft- oder Photovoltaikanlagen eingespeist und gleichzeitig in größeren Mengen für Anwendungen wie Wärmepumpen oder Elektromobilität zur Verfügung gestellt werden: Mit dem Ausbau erneuerbarer Energien wird das Energienetz zunehmend belastet.

Um die Versorgungssicherheit weiterhin gewährleisten zu können, entwickeln Wissenschaftler am Fachgebiet Elektrische Energieversorgung im Rahmen des Kopernikus-Projekts ENSURE II, das Teil einer Forschungsinitiative der Bundesregierung zum Thema Energiewende ist, neuartige Assistenzsysteme zur Überwachung und Bewertung der Situation im Verteilernetz. Die Softwarelösungen können mittels Berechnungen in Echtzeit mögliche Überlastungen oder ineffiziente Betriebsweisen identifizieren und Netzbetreibenden rechtzeitig Handlungsempfehlungen geben. Typische Maßnahmen zur Verbesserung des Netzzustands sind beispielsweise das Anpassen der Netztopologie über Schaltmaßnahmen, das temporäre Reduzieren des Verbrauchs oder der Einspeisung von erneuerbarer Energien. Hierfür werden Versuche in einer modulierten Umgebung durchgeführt, die einen realitätsnahen Netzbetrieb nachbildet. Ziel der Forscher ist es, bereits bestehende Energienetze effizienter und sicherer zu machen, wie Dr. Schlegel erklärt:

Durch den Einsatz von Assistenzsystemen werden die Versorgungssicherheit und Stabilität der Energienetze wesentlich erhöht. So können mehr Energiequellen an das Netz angeschlossen und höhere Auslastungen bewältigt werden, ohne dass weitere Leitungen gebaut werden müssen, die nicht nur einen Eingriff in die Natur darstellen würden, sondern auch mit hohen Kosten und Ressourcenaufwand verbunden wären.

Fokus auf Verteilernetze

Johannes Kayser, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Elektrische Energieversorgung, ist an der Entwicklung der Assistenzsysteme maßgeblich mit beteiligt. Er erklärt, worauf sich das Team fokussiert:

Das elektrische Energiesystem ist ein dynamisches System. Das Bedeutet es befindet sich stets im Übergang zwischen zwei Zuständen. Während heutzutage einzelne Zustände betrachtet und analysiert werden, fokussieren wir uns auf diesen Übergang zwischen den Zuständen. Durch die kontinuierliche Analyse und Bewertung dieses Übergangs, also der Netzdynamik, kann man zu jedem Zeitpunkt Aussagen zur Netzstabilität und Versorgungssicherheit treffen. Mit diesem Wissen können vorgehaltene Reserven, also Übertragungskapazitäten genutzt werden, die sonst aufgrund der Unkenntnis als Sicherheit etabliert wurden. Das heißt zusätzlich zur Information über die aktuelle Robustheit des Netzes, kann das Netz effizienter ausgelastet werden und somit ohne Netzausbau mehr erneuerbare Energien integriert oder mehr Lasten versorgt werden.

Im Gegensatz zu vorhergegangenen Forschungsprojekten auf dem Gebiet der Energieversorgung fokussieren sich die Wissenschaftler der TU Ilmenau im ENSURE II-Projekt nicht auf Übertragungsnetze, sondern auf Verteilernetze, die Leistung direkt bis zum Endverbraucher liefern. In enger Zusammenarbeit mit Netzbetreibern, Industrie und Forschungseinrichtungen kommen die Forschungsergebnisse des Projekts in einer Modellregion nördlich von Hamburg zur Anwendung. Der Kreis Steinburg gilt als ideales Umfeld für die Forschung, da hier Energie aus Windkraftanlagen in großen Mengen eingespeist wird. Noch bis 2023 erforschen die Wissenschaftler an der TU Ilmenau Assistenzsysteme und prüfen deren Anwendung mit Blick auf die Dringlichkeit und des Mehrwerts für den Netzbetrieb. Jan Kircheis, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Elektrische Energieversorgung, arbeitet innerhalb des ENSURE II-Projekts an der so genannten Inselfähigkeitsbewertung:

Das sich in der Entwicklung befindliche Assistenzsystem soll die 'Inselfähigkeit' von Netzabschnitten im Verteilnetz bewerten und gegebenfalls optimieren. Inselfähigkeit heißt in diesem Zusammenhang, dass sich einzelne Netzabschnitte zeitweise ohne Verbindung zum übrigen Netz versorgen können. Das erhöht die Zuverlässigkeit und Widerstandsfähigkeit der Netze insgesamt.  Stellt das Assistenzsystem Abweichungen von den optimalen Bedingungen fest, so werden automatisch Abhilfemaßnahmen berechnet, welche angewendet werden können, um die Inselfähigkeit zu verbessern.

Im bundesweiten Kopernikus-Forschungsprojekt ENSURE des Bundesministeriums für Bildung und Forschung wollen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Netzbetreibende, die Industrie sowie Vereine wie die Deutsche Umwelthilfe ein Gesamtkonzept für eine erneuerbare Energieversorgung in Deutschland entwerfen, das in den bestehenden sozio-ökonomischen Rahmen eingebettet ist und eine Übertragbarkeit der Ergebnisse innerhalb Deutschlands und Europas sicherstellt. Der Kreis Steinburg in Schleswig-Holstein wird dabei als Modellregion genutzt, um zu erforschen, welche Technologien, Betriebsführungsmethoden und Steuerungsmechanismen zukünftig benötigt werden, um mehr erneuerbaren Strom zu den Verbraucherinnen und Verbrauchern transportieren zu können. Nach Abschluss des ENSURE I-Projekts, in dem die Grundlagen für das Forschungsvorhaben gelegt wurden, werden bei ENSURE II diese Ansätze und Technologien konkretisiert, die im Folgeprojekt ENSURE III zur Anwendung kommen sollen.

 

Kontakt

Dr. Steffen Schlegel

Oberingenieur am Fachgebiet Elektrische Energieversorgung