Forschung

„Wir brauchen nachhaltige Produktinnovationen“

Prof. Rainer Souren, Leiter des Fachgebiets Nachhaltige Produktionswirtschaft und Logistik, beschäftigt sich schon seit den 1990er-Jahren mit nachhaltiger Produktion. Sein Wissen aus der Betriebswirtschaftslehre nutzt der Ökonom, um Prozesse der Produktion ökologisch zu gestalten und Kreisläufe für verschiedenste Produkte zu schließen. Im Interview erklärt Prof. Souren, in welchen Industrien sich die Kreislaufwirtschaft bereits erfolgreich etabliert hat und wo die Hürden der Kreislaufschließung liegen. 

Foto: TU Ilmenau/Eleonora Hamburg
Prof. Rainer Souren lehrt und erforscht nachhaltige Produktionswirtschaft.

Guten Tag Prof. Souren, an Ihrem Fachgebiet beschäftigen Sie sich mit nachhaltiger Produktionswirtschaft. In welchen Aspekten unterscheidet sich diese von einer, wie sie im herkömmlichen Sinne praktiziert wird?

Eine herkömmliche Produktionswirtschaft zielt darauf ab, dass die Produktion möglichst kostengünstig abläuft und die Produkte gut verkauft werden können. Nachhaltige Produktion achtet auch darauf, dass Abfallstoffe oder Emissionen, die bisher vernachlässigt worden sind, minimiert werden. Das Stichwort in der Betriebswirtschaftslehre heißt Kuppelproduktion. In der nachhaltigen Produktionswirtschaft geht es darum, möglichst wenige Emissionen zu produzieren, Ressourcen zu schonen und dabei doch gewinnbringend zu produzieren.

Bei nachhaltigen Produkten denken viele an Brotbeutel aus Baumwolle oder Bienenwachskerzen. Wie viel Nachhaltigkeit ist in der industriellen Produktion unserer alltäglichen Güter überhaupt möglich?

Nachhaltigkeit spielt inzwischen bei sehr vielen Produkten eine Rolle und wird zunehmend von Konsumentinnen und Konsumenten gefordert. Sie ist jedoch im Regelfall mit höheren Kosten verbunden. Als mögliche Lösung könnte der Staat Anreize schaffen und nachhaltig produzierte Produkte vergünstigen. Auch eine höhere Besteuerung von Gütern, die nicht nachhaltig hergestellt werden, wäre denkbar.

Nachhaltigkeit kommt nun zunehmend auch in globalen Wertschöpfungsketten an - aber man muss sich die Frage stellen: Ist globale Wertschöpfung auch nachhaltig? Natürlich bringen globale Wertschöpfungsprozesse viele ökonomische Vorteile mit sich, aber aus Sicht ökologischer Nachhaltigkeit und ökonomischer Resilienz haben wir vor allem durch die Krisen der letzten Jahre gemerkt, dass globale Wertschöpfungsketten nicht immer gut sind.

Heißt die Lösung, regional zu produzieren?

Immer wenn es geht ja. Ich will nicht sagen, dass globale Wertschöpfungsketten falsch sind. Es gibt viele gute Gründe dafür, dass man bestimmte Produkte in fernen Ländern produzieren lässt. Aber man muss neben der ökonomischen Perspektive, sprich wo bekomme ich meine Rohstoffe günstig her, auch Fragen berücksichtigen wie: Wie sicher bin ich, dass ich die Rohstoffe auch in einer Krisensituation bekomme?

Wie ist es möglich, nachhaltig zu produzieren?

Unter anderem durch sinnvolle Kreislaufschließung. Das kann im Unternehmen selbst passieren, wenn Abfallstoffe wieder eingefangen und genutzt werden. Die Glasindustrie ist ein gutes Beispiel, wie Abfallstoffe wieder zu einem Gut werden. Man braucht im Produktionsprozess sogar Scherben, um Glas effizient herzustellen.

Auch in anderen Industrien existieren bereits viele Konzepte, wie man in Produktfamilien Kreisläufe erfolgreich implementiert. Zu diesen gehört, dass man zum Beispiel Autoteile, die vor 20 Jahren hergestellt wurden, also in früheren Produktgenerationen, wieder nutzt. Diese Überlegungen nachhaltiger Produktinnovationen halte ich für sehr wichtig.

An Ihrem Fachgebiet betreiben Sie Grundlagenforschung, die sich an realen Problemen orientiert. Welche sind das?

Ich bin glücklich an einer technischen Universität zu lehren und zu forschen, weil ich hier mit Ingenieurinnen und Ingenieuren zusammenarbeite, die aus technischer Perspektive betrachten, wie Produktion und Logistik funktionieren. Wir Produktionswirtinnen und -wirte bringen unsere ökonomische Perspektive ein. Wir schauen dabei nicht immer nur auf die Kosten, sondern denken in Bewertungskategorien wie z. B. CO2-Emissionen. Ökonominnen und Ökonomen können Dinge sehr gut bewerten, evaluieren und ökologisch beurteilen, Stichwort Ökobilanzierung. Dieses Gebiet verfolgen wir zunehmend und arbeiten dabei mit den Ingenieurinnen und Ingenieuren der Universität zusammen.

Konkret beschäftige ich mich stark mit Kreislaufstrukturen, Verpackungskreisläufen, dem dualen System, aber auch Behältersystemen in der Automobilindustrie. Wie können Mehrwegsysteme vernünftig funktionieren? Machen Pfandlösungen bei Verpackungen Sinn? Ein neuer Schwerpunkt ist die ökonomische und ökologische Performancemessung. Wir entwickeln Tools weiter und optimieren diese.

Ich betrachte jedoch nicht nur die Produktion von Gütern, sondern auch Dienstleistungen, die ebenfalls nachhaltig gestaltet werden können. Dabei schaue ich mir eine breite Palette von Dienstleistungen an. Car- oder Bike-Sharing sind hier gute Beispiele, aber auch Konzepte der so genannten Co-Produktion, bei der Kunden in die Produktion integriert werden. Ich betrachte, ob und inwieweit dies betriebswirtschaftlich sinnvoll ist.   

Wie genau gehen Sie als Betriebswirt vor, wenn Sie sich mit nachhaltigen Produktionsketten auseinandersetzen und wie sieht Ihr Arbeitstag aus?

Ich schaue mir die Akteurinnen und Akteure an und überlege mir, wie ich sie dazu bringe, an diesen Kreisläufen teilzunehmen. Hier fließen auch verhaltenswissenschaftliche Aspekte mit ein und als Betriebswirt sehe ich mich hier als Bindeglied zwischen Ökonomie, Soziologie, Psychologie und den Ingenieurwissenschaften.

Ab und an besuchen ich und meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Fachgebiet Industrieunternehmen, um uns ein Bild von der Praxis zu verschaffen. Den Großteil der Zeit verbringe ich vor dem Computer und versuche betriebliche Prozesse, beispielsweise Sortierprozesse abzubilden. Das heißt, ich beschreibe sie grafisch und modelliere Input-Output-Flüsse mit mathematischen Modellen.  Dafür nutze ich unter anderem auch eine spezielle Software zur Ökobilanzierung. Wenn ein bestimmtes Produkt hergestellt oder ein Verpackungskreislauf dargestellt werden, kann ich genau bestimmen, wie viel CO2-Emissionen entstehen. Durch Optimierungsmodelle kann ich zudem sehen, welche Alternativen die besten aus ökonomischer und ökologischer Perspektive sind.

Sie haben sich bereits in ihrer Habilitation mit der Kreislaufwirtschaft auseinandergesetzt. Wussten Sie schon damals, dass das Thema an Bedeutung gewinnt?

Ja, denn schon in den 1990er Jahren war mein Doktorvater einer der ersten Produktionswirte, die die Meinung vertraten: Wir müssen uns auch um Abfälle in unseren Produktionsabläufen kümmern. Das hat mich bewegt, mich mit umweltorientierter Produktionswirtschaft zu beschäftigen. In meiner Doktorarbeit habe ich mich damit auseinandergesetzt, wie Abfälle gezielt verwertet werden können. In Analogie zur Produktionstheorie habe ich also Modelle der Reduktionstheorie entworfen. In meiner Habilitation habe ich das dann dahingehend erweitert, dass ich mir ganze Kreislaufsysteme aus betriebswirtschaftlicher Sicht angeschaut habe.

Das Kreislaufwirtschaftsgesetz regelt die umweltverträgliche Bewirtschaftung von Abfällen in Deutschland. Was genau besagt es?

Unternehmen müssen sich um die Rückführung ihrer Produkte kümmern. Altautos, Elektroschrott und Verpackungen gehören dabei zu den drei größten Kategorien. Allerdings ist auch das duale System für die Entsorgung von Einwegverkaufsverpackungen noch verbesserungswürdig. Es gibt noch viel zu gestalten und zu erforschen.

Gibt es auch Produkte, bei denen ein Kreislauf nicht geschlossen werden kann?

In nahezu allen Kreisläufen braucht es sehr viele Akteurinnen und Akteure, die mitmachen, damit sie funktionieren und es gibt in vielen Kreisläufen noch Lücken. Im Endeffekt existieren drei Möglichkeiten, warum ein Kreislauf nicht geschlossen wird: Bei der Einsammlung spricht man vom Kollektionsgap. Er entsteht, wenn es keine Rückführsysteme gibt oder diese nicht genutzt werden. Denken Sie an alte Handys, die jahrelang in den Schubladen liegen.

Die zweite Möglichkeit ist der Reduktionsgap. Man bekommt ein Produkt gar nicht richtig auseinander, um es zu recyceln. Dieses Problem sollte nicht erst beim Recycling selbst, sondern schon in der Produktentwicklung angegangen werden. Der letzte Gap ist der Induktionsgap. Er tritt auf, wenn die Konsumentinnen und Konsumenten glauben, das recycelte Produkt sei qualitativ minderwertig. Ein Beispiel sind runderneuerte Reifen. Hier muss ein Umdenken stattfinden. Wie zwei der genannten Beispiele zeigen, kommt schlussendlich Konsumentinnen und Konsumenten eine Schlüsselrolle zu, damit Kreisläufe funktionieren. Aber selbstverständlich stehen auch die Unternehmen in der Verantwortung, was das Gesetz ja auch eindeutig regelt.

Die Thematik Nachhaltigkeit hat in den letzten Jahren an Bedeutung zugenommen. Wie merken Sie diesen Geisteswandel an Ihrem Fachgebiet?

Am ehesten merke ich das bei meinen Studierenden. Als ich 2006 an der TU Ilmenau angefangen habe, habe ich den Studierenden Kreislaufkonzepte am Auto erklärt. Damals konnten sich die wenigsten von ihnen vorstellen, auf das Auto zu verzichten. Wenn ich die gleichen Konzepte heute erkläre, sagen mir die Studierenden, dass sie mit dem ÖPNV oder dem Fahrrad fahren. Da ist das Smartphone heutzutage doch besser als Anschauungsobjekt geeignet. Immer mehr Studierende kommen in Eigeninitiative mit Fragen auf mich zu, die sich mit Nachhaltigkeit beschäftigen. Sie sind intrinsisch motiviert, über Nachhaltigkeit zu lernen und zu forschen. Auch Unternehmen kommen auf unser Fachgebiet zu, oft über Abschlussarbeiten mit Studierenden. Auch sie sind zunehmend interessiert, ihre Produktion nachhaltiger zu gestalten.

In der Lehre betrachten Sie Nachhaltigkeit auch aus einer ethischen Perspektive, z.B. in der Vorlesung Unternehmensethik und Nachhaltigkeitsmanagement. Was bringen Sie Studierenden hier bei?

Gemeinsam mit den Studierenden betrachten wir Fragestellungen aus dem Alltag von Betriebswirtinnen und Betriebswirten, z. B. gerechte Mitarbeiterentlohnung, fairen globalen Handel oder moralisch akzeptable Produkt- und Serviceangebote. Die Studierenden diskutieren mögliche Lösungsvorschläge. Oftmals gibt es viele Optionen und kein richtig oder falsch. Vielmehr geht es mir darum, dass sie ihre Lösungen gut begründen können und selbstständig denken. Das bereitet sie auf ihre künftige Arbeitstätigkeit vor.

Zur Person:

Prof. Rainer Souren hat an der RWTH Aachen Betriebswirtschaftslehre studiert. Nach seinem Studienabschluss war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der RWTH Aachen tätig. Er promovierte zum Thema „Theorie betrieblicher Reduktion – Grundlagen, Modellierung und Optimierungsansätze stofflicher Entsorgungsprozesse“. In seiner Habilitation, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wurde, beschäftigte er sich bis 2002 mit Konsumgüterverpackungen in der Kreislaufwirtschaft. Im Anschluss lehrte er Allgemeine BWL, insb. Produktionswirtschaft und Wirtschaftsinformatik an der Universität Bremen. Seit 2006 lehrt und forscht Prof. Souren an der TU Ilmenau und leitet das Fachgebiet Nachhaltige Produktionswirtschaft und Logistik. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Kundenintegrierte Produktion, Effizienzmessung, Kreislauf- und Entsorgungswirtschaft. Prof. Souren ist zudem im Verband der Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer für Betriebswirtschaft e.V. (VHB) aktiv. Als ehemaliger Vorsitzender der Kommission Nachhaltigkeitsmanagement gestaltete er u.a. universitätsübergreifende Lehrkonzepte für Nachhaltigkeit.

 

13. bis 15. September 2023: Fachtagung zu Nachhaltigkeit in Produktion und Logistik

Mit Nachhaltigkeit in Produktion und Logistik beschäftigt sich auch die ASIM Fachtagung, die größte europäische Simulationstagung für Produktion und Logistik, die vom 13. bis 15. September 2023 an der TU Ilmenau stattfindet. Drei Tage lang diskutieren Wissenschaftler, Anwender und Dienstleister zukunftsweisende Trends und aktuelle Entwicklungen und präsentieren ihre wissenschaftlichen Arbeiten und Anwendungen in der Industrie.

Nähere Informationen und Programm

Kontakt

Univ.-Prof. Dr. Rainer Souren

Leiter des Fachgebiets Nachhaltige Produktionswirtschaft und Logistik