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Frauen in der Wissenschaft: „Ein interdisziplinäres Studienangebot spricht MINT-interessierte Mädchen an“

Mit herausragender Forschung schärfen die Wissenschaftlerinnen der TU Ilmenau das Profil der Universität und tragen zum Fortschritt unserer Gesellschaft bei. Zum Tag der Frauen und Mädchen in der Wissenschaft startet UNIOnline eine neue Interviewreihe mit Wissenschaftlerinnen der TU Ilmenau, in der sie über ihre Forschung und ihren Werdegang erzählen.

Dr.-Ing. Katja Tonisch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Technische Physik I und gleichzeitig Gleichstellungsbeauftragte der TU Ilmenau. Im ersten Interview der Reihe berichtet sie, wo die Hürden für Frauen, die eine wissenschaftliche Karriere anstreben, liegen, wie die TU Ilmenau Schülerinnen bei der Studienwahl bestärkt und welche MINT-Fächer bei Studentinnen besonders beliebt sind.

Liebe Frau Dr. Tonisch, knapp 30 Prozent aller Studierenden der TU Ilmenau sind weiblich. Frauen machen knapp ein Viertel aller Promotionstudierenden an der TU Ilmenau aus. Insgesamt lehren und forschen zehn Professorinnen an der Universität. Das so genannte Kaskadenmodell besagt: Je höher die Karrierestufe in der Wissenschaft, desto weniger Frauen sind vertreten. Wie ist dieses Phänomen zu erklären?

Die Idee hinter dem Kaskadenmodell sagt, dass man immer nur einen gewissen Anteil aus der vorherigen Karrierestufe rekrutieren kann. Will man also mehr Professorinnen berufen, so müssen genügend Frauen mit einer entsprechenden Qualifikation, z.B. mit einer Habilitation in dem jeweiligen Wissenschaftsfeld vorhanden sein. Diese wiederum erfordern eine genügend hohe Zahl promovierender Frauen, woraus sich der Bedarf für einen noch höheren Anteil Frauen in der Gruppe der Studierenden ergibt. Aus Gleichstellungssicht bedeutet es, dass man die Frauenanteile auf allen Stufen von den studieninteressierten Mädchen bis hin zur Professorin adressieren muss.

Sie sind selbst Wissenschaftlerin am Fachgebiet Technische Physik I und gleichzeitig Gleichstellungsbeauftragte der TU Ilmenau. Welche Hürden sehen Sie für Frauen in der Wissenschaft?

Eine der größten Hürden ist aus meiner Sicht das Befristungswesen an Universitäten und wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen, das für wissenschaftliche Karrieren durchaus prägend ist. Ausgerechnet im Alter von 25-35 Jahren trifft der Wunsch zur Familiengründung auf die prekäre, durch Ketten- und Anschlussverträge geprägte Phase der Qualifikation auf Promotions- und PostDoc-Stellen.  Auch die Forderung nach wissenschaftlicher Mobilität im Lebenslauf, wie zum Beispiel der Wechsel zwischen Universitäten und Wissenschaftseinrichtungen, der Nachweis längerer Aufenthalte im Ausland und die regelmäßige die Teilnahme an weltweit durchgeführten Konferenzen stehen im Widerspruch zu einer möglichen Familiengründung und zur Doppelrolle als Wissenschaftlerin und Mutter.  Diese Hürde besteht selbstverständlich in entsprechender Weise auch für männliche Wissenschaftler, allerdings treffen nach wie vor häufiger junge Frauen eine bewusste Entscheidung für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie und damit gegen eine oft unsichere Zukunft im wissenschaftlichen Bereich.

Besonders MINT-Studienfächer wie Ingenieurwissenschaften oder Physik verzeichnen bundesweit einen geringen Frauenanteil. Später fehlen in diesen Bereichen weibliche Fach- und Führungskräfte. Welche Auswirkungen hat dieser Umstand für Forschung, Industrie und unsere Gesellschaft, z.B. Stichwort Gender Data Gap?

Ein interessantes Beispiel für fehlende Daten war die Vorstellung des ersten weiblichen Crashtest-Dummies im November letzten Jahres. Ein typischer Crashtest-Dummy ist 1,75 m groß und wiegt 78 kg. Auf ihn sind alle Sicherheitseinrichtungen im Auto – also Sitzschale, Gurte, Airbags usw. angepasst. Frauen sind jedoch nicht einfach kleinere Versionen von Männern, ihr Schwerpunkt liegt durchschnittlich tiefer, das Becken ist breiter und die Nackenmuskulatur schwächer ausgeprägt. Das führt dazu, dass ihr Verletzungsrisiko bis heute höher ist als das von Männern bei vergleichbar schweren Autounfällen. Ähnlich verhält es sich in vielen Bereichen, von der Medizin über technische Geräte bis hin zur Städteplanung – wo Frauen nicht mitgedacht werden, entstehen für sie Nachteile, auch wenn Mediziner, Ingenieure oder Städteplaner dies nicht beabsichtigen.

In den vergangenen Jahren ist es der TU Ilmenau gelungen, den Frauenanteil in der Fächergruppe Mathematik und Naturwissenschaften zu steigern. Wie ist ihr das gelungen?

Es ist eine bekannte Tatsache, dass naturwissenschaftlich-technisch interessierte Mädchen sich überproportional häufig für interdisziplinäre Studiengänge entscheiden – insofern ist der Ausbau des interdisziplinären Studienangebots das Mittel der Wahl für die Erhöhung des Anteils der Studienanfängerinnen. In der Mathematik gelingt die Steigerung des Frauenanteils wesentlich durch die Schwerpunktsetzung im Bereich der Wirtschaftsmathematik im Master, hier liegt der Frauenanteil im Wintersemester 2022 bei 39%. Aber auch der Studiengang Biotechnische Chemie hat mit 40% insgesamt (im Bachelor 39%, im Master 44% Frauenanteil) einen vergleichsweise hohen Frauenanteil mit einer sehr guten Übergangsquote zum Master.

Die Vereinten Nationen haben den Internationalen Tag der Frauen und Mädchen in der Wissenschaft ins Leben gerufen, um den Zugang von Frauen und Mädchen in die Wissenschaft zu fördern. Auch die TU Ilmenau setzt schon früh bei der MINT-Förderung von Schülerinnen an und bietet ihnen eine Reihe von Angeboten zur Studienorientierung – darunter die Sommeruniversität. Wie helfen diese Angebote jungen Frauen bei der Karrierefindung?

Die Thüringer Koordinierungsstelle Naturwissenschaft und Technik (thueko) wurde 1996 an der TU Ilmenau gegründet, um Orientierungsangebote für naturwissenschaftlich-technisch interessierte Mädchen zu entwickeln und anzubieten. Aktuell finden jährlich eine Sommeruniversität, ein MINT-Assessmentverfahren und die Campus-Thüringen-Tour statt. Studentinnen gehen als MINT-Botschafterinnen an die Schulen, um Schülerinnen von ihrem Studium an der TU Ilmenau zu erzählen. Diese und weitere Angebote helfen insbesondere dabei, ein technisches oder naturwissenschaftliches Studium vorstellbar zu machen, Einblicke in den Studienalltag und in Berufsfelder zu erhalten -  um anschließend eine qualifizierte Entscheidung für ein Studium treffen zu können. Gerade ingenieurwissenschaftliche Studiengänge werden auch heute noch als männlich konnotiert wahrgenommen, so dass junge Frauen oft gründlich über eine entsprechende Studienwahl nachdenken und die eigenen Neigungen und Fähigkeiten sorgfältig abwägen – dabei können Orientierungsangebote gut unterstützen.

Gleichstellungsarbeit an der TU Ilmenau

Gleichstellung ist laut §4 des Thüringer Gleichstellungsgesetzes (ThürGleichG) an Thüringer Hochschulen ist gesetzlicher Auftrag. Eingebettet in gesamtgesellschaftliche Prozesse werden Gleichstellung und Chancengleichheit an der TU Ilmenau als wichtige Querschnittsaufgabe verstanden und gelebt.  Dazu gehören der Abbau von Barrieren, um die gleichberechtigte Teilhabe aller Universitätsangehörigen am universitären Leben in Forschung und Lehre zu ermöglichen. Kernelemente der Gleichstellungsarbeit bilden zielgruppenspezifische Informations-, Beratungs- und Förderangebote sowie die (weitere) Vernetzung und Verstetigung bestehender Gleichstellungsmaßnahmen und Organisationsstrukturen. Als erste Hochschule im Freistaat Thüringen bewarb sich die TU Ilmenau im Oktober 2006 erfolgreich um das TOTAL-EQUALITY-Prädikat und hat dieses 2022 zum 6. Mal in Folge erhalten. Zudem wurde die TU Ilmenau mit dem Nachhaltigkeitspreis für gelebte Chancengleichheit von Frauen und Männern im Beruf geehrt.

Als Gleichstellungsbeauftragte ist Dr.-Ing. Katja Tonisch Ansprechpartnerin für alle Beschäftigten und Studierenden der TU Ilmenau bei Fragen und Beratungsbedarf rund um das Thema Gleichstellung. Sie setzt sich für ein gleichberechtigtes Miteinander von Frauen und Männern an der Universität ein. Mit ihrer Arbeit unterstützt sie die Hochschulleitung bei der Verwirklichung der gesetzlich verankerten Chancengleichheit der Geschlechter und wirkt darauf hin, bestehende Nachteile abzubauen. Zusammen mit dem Gleichstellungsrat werden Fördermaßnahmen und Aktionen realisiert.

Derzeit studieren 1381 Studentinnen an der TU Ilmenau, darunter 122 Promotionsstudentinnen. 201 Frauen von insgesamt 798 wissenschaftlichen Mitarbeitenden sind an der TU Ilmenau beschäftigt. Sie machen 25 Prozent des wissenschaftlichen Personals aus. Zehn Professorinnen von insgesamt 98 arbeiten an der Universität. Zu den Studiengängen mit dem höchsten Frauenanteil gehören Media and Communication Science, Medienwirtschaft, Angewandte Medien- und Kommunikationswissenschaft, Biomedizinische Technik und Miniaturisierte Biotechnologie.

Kontakt

Dr.-Ing. Katja Tonisch

Gleichstellungsbeauftragte der TU Ilmenau