Forschung

„Die Offenheit der Ilmenauer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hat mich überzeugt“

Ilmenau als Arbeitsort zu wählen, wenn einem die ganze Welt zur Auswahl steht, scheint auf den ersten Blick ungewöhnlich. Genau das hat Dr. Sukhdeep Singh 2008 getan und ist seitdem ein zufriedener Einwohner Ilmenaus. Welche Beweggründe sein Umzug aus der indischen Millionenmetropole Amritsar in eine Kleinstadt im Osten Deutschlands hatte und was sich für ihn mit dieser Entscheidung in seinem Leben verändert hat, erzählt Dr. Singh, Forschergruppenleiter am Institut für Chemie und Biotechnik an der TU Ilmenau, im Interview mit Anna Simo Genao, Studentin der Angewandten Medien- und Kommunikationswissenschaft.

TU Ilmenau/Michael Reichel
Dr. Singh ist Forschergruppenleiter am Institut für Chemie und Biotechnik an der TU Ilmenau.

Guten Tag Dr. Singh, Sie haben Ihre komplette akademische Laufbahn bis hin zum Doktor in Indien abgeschlossen. Kurz danach haben Sie sich entschieden, nach Ilmenau zu ziehen. Wie kam es dazu?

Um ehrlich zu sein war Deutschland nicht die erste Wahl, als ich darüber nachgedacht hatte, wo ich hinwollte. Erst recht als junger Mensch. Es ging mir eher darum, generell einen anderen Teil der Welt zu sehen. Und Deutschland wurde es dann im Endeffekt durch die Forschungsgruppe von Professor Andreas Schober. Die Gruppe arbeitete an einem biologischen Thema mit einer technischen Sichtweise. Ich komme persönlich von der organischen und fundamentalen Chemie, das heißt, ich hatte thematisch nicht viel damit zu tun, aber ich wollte mein gesammeltes Wissen in das Feld der technischen Seite implementieren. Ich habe mich gefragt: „Wie kann man die fundamentale Chemie durch den technischen Blickwinkel erweitern?“. Und da würde ich sagen, ist die Offenheit in Deutschland super. Man merkt, wie aufgeschlossen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hier sind, Ideen, die vielleicht gar nichts miteinander zu tun haben, zu kombinieren. Und Professor Schober hatte ein sehr innovatives Mindset in seiner Herangehensweise, seiner Forschung. So dachte ich mir dann: Wieso nicht dorthin gehen und versuchen meine Chemie mit seiner Biologie zu verbinden? Und so bin ich hier gelandet.

Jetzt habe ich eine Familie und Kinder, die hier zur Schule gehen. Meiner Meinung nach ist Ilmenau auch wirklich ein perfekter Standort dafür. Es gibt Schulen, die Universität, Freizeitangebote - alles ist nah, man fühlt sich sicher und durch die Uni gibt es auch eine internationale Umgebung. Ich bin vollkommen zufrieden mit meiner Entscheidung.

Meine Eltern sind beide Migranten und haben mir oft von ihrem Kulturschock erzählt, als sie in Deutschland angekommen sind. Haben auch Sie diese Erfahrung gemacht oder war Ihre Eingewöhnung in die deutsche Lebensweise reibungslos?

Ich hatte auf jeden Fall erst einmal einen Temperaturschock. Dass es hier so kalt werden kann und auch, dass die Stadt nicht so flach ist, hat mich überrascht. Meine Beine haben die ersten Wochen sehr wehgetan. Aber auf der Arbeit habe ich auf der persönlichen Ebene keinen Unterschied gespürt. Da ist es ja auch egal, wo du hinreist und arbeitest, der professionelle Umgang ändert sich nicht. Natürlich vermisst man die Freunde und Familie. Aber ich denke, das ist unvermeidbar und eine Konsequenz der eigenen Entscheidung, das Heimatland zu verlassen.

Was mir noch einfällt, ist die Frage, wieso ich einen Turban trage. Ich bin ein religiöser und traditioneller Mensch und in meiner Religion trägt man als Mann einen Turban. In Indien ist das gängiges Wissen und Teil der Kultur. Hier werde ich jedoch öfters gefragt und da ist es schwierig, in einem Satz zu antworten. Es ist eine kulturelle und religiöse Sache und das auf der Straße jemandem schnell zu erklären, ist kompliziert. Es ist einfach ein Ausdruck und Identität der Sikh-Kultur, der ich zugehörig bin. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich mit dieser Thematik offen umgehe. Inzwischen würde ich sagen, ich komme gut mit Nachfragen zurecht.

Sie sagten, dass Sie Ilmenau durch die Universität als sehr international empfinden. Haben Sie mit internationalen Studierenden aus Indien Kontakt? Nehmen Sie an kulturellen Feierlichkeiten innerhalb von Vereinen wie dem KuKo e.V. teil?

Durch meinen Job und familiäre Verpflichtungen bleibt die Zeit dafür meistens leider nicht über. Hin und wieder nehme ich auch an einem sozialen Event teil, aber meistens haben die Studierenden Kontakt untereinander. Wenn aber eine Notwendigkeit besteht, bin ich da.

Ilmenau ist jetzt schon seit 15 Jahren Ihre Heimat. Können Sie sich vorstellen, irgendwann nach Indien zurückzuziehen?

Ich habe mich ja hier schon niedergelassen. Ilmenau ist mein zweites Zuhause. Aber ich bin trotzdem offen, man lebt nur einmal. Und wenn die Möglichkeit besteht, mehr zu lernen, das eigene Wissen anzuwenden und wenn dieses auch gebraucht wird, dann bin ich offen dafür, nach Indien oder auch in ein anderes Land zu ziehen. Aber nicht aus privaten oder finanziellen Gründen.

Haben Sie einen Unterschied in Ihrem Arbeitsalltag erkannt, seitdem Sie nach Ilmenau gezogen sind?

Ja, es gibt einen sehr großen Unterschied zwischen dem Arbeiten in Indien und Arbeiten in Deutschland. Da zähle ich aber erst die Zeit ab meinem Doktor, denn bis dahin ist die Zeit als Studierender überall ähnlich. Verantwortung kommt erst mit dem Doktor. Meinen Beobachtungen nach ist in Deutschland die Hierarchie sehr flach. In Indien ist sie sehr strikt und man muss auch unter Druck arbeiten können. Davon gibt es dort sehr viel. Druck ist generell gut, aber zu viel Druck ist kontraproduktiv. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Leute dadurch weniger Fortschritt gemacht haben. Und das finde ich toll an Ilmenau. Du hast nur Druck, wenn es nötig ist. Bei den Abschlussarbeiten zum Beispiel.

Meine Mitbewohnerin hat Arbeiten im Ausland für sich ausgeschlossen, weil die Fachsprache in der Chemie auf Englisch ganz anders ist als die auf Deutsch. Wie geht es Ihnen mit den chemischen Namen? Hatten Sie damit auch ein Problem, als Sie erstmals hergekommen sind?

Das ist ein kompliziertes Thema. Ich habe tatsächlich immer noch Schwierigkeiten damit. Ihre Mitbewohnerin hat damit auf jeden Fall einen berechtigten Gedanken. Die fachliche Sprache ist auf Deutsch tatsächlich sehr anders. Zum Beispiel sagt man zu „Sulfur“ Schwefel. Als ich das erste Mal die Möglichkeit hatte, hier zu unterrichten, war es unbequem, weil gute Kommunikationsfähigkeiten gefragt waren und ich auch ehrlich gesagt erst einmal nicht wusste, was ich machen soll. Ich habe dann meine ersten Vorlesungen auf Englisch gehalten und die Hälfte der Studierenden waren beim nächsten Mal nicht mehr dabei. Deswegen hatte ich Druck, die Begriffe auf Deutsch zu lernen. Und das ist das, was ich vorhin gemeint habe mit dem Druck, der dann aber nur da ist, wo er auch notwendig ist. Aber was so wunderschön an Chemie ist, ist, dass sie strukturell die gleiche Sprache spricht. Ich kenne Ihre Mitbewohnerin nicht, aber ich würde sagen, sie soll sich nicht durch die Sprache aufhalten lassen, in anderen Ländern zu arbeiten. Das kommt automatisch und wenn man sich ein wenig damit beschäftigt, dann wird das schon gehen. Arbeiten im Ausland ist sehr interessant, also sollte das nicht der Grund sein, wieso sie das für sich ausschließt.

Zur Person

PD Dr. Sukhdeep Singh ist in Banga, Nawanshahr in Indien geboren und aufgewachsen. Er studierte ab 2003 organische Chemie an der Guru Nanak Dev Universität Amritsarzu und fungierte dort anschließend bis 2007 als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Er promovierte 2008 am Fachbereich für Angewandte Chemiewissenschaften und Technologie mit dem Thema „Synthesis and Regioselective Scaffold Decoration of Biginelli Dihydropyrimidinones“. Seit 2019 ist Dr. Singh Leiter der Forschergruppe Bioorganische Chemie bioaktiver Oberflächen am Institut für Chemie und Biotechnik und beschäftigt sich mit der Entwicklung von Materialien, Sensoren und chemischen Systemen, die in der Biotechnologie und dem Umweltschutz Anwendung finden. Er habilitierte zu dem Thema „Chemical toolbox for designing small bioactive molecules and fragments in search of tunable bioactive surfaces“. Zu seinem Forschungsinteresse gehören außerdem chemische Methoden zur Entwicklung von Chemosensoren sowie Nachbearbeitungsmethoden für Polymere zur Reduzierung von Umweltabfällen.

Hintergrund der Interviews

Im Rahmen des Seminars „Berufsfeldorientierung Journalismus“ haben Studierende der TU Ilmenau Angehörige der Universität interviewt. Die Interviews befassen sich mit Themen, die die TU Ilmenau stark beschäftigen – darunter Nachhaltigkeit, E-Learning oder Internationalität. Im Gespräch mit den Studierenden geben Dozierende, Forschende und Mitarbeitende auch ganz persönliche Einblicke preis und erzählen, was sie antreibt, wie sie berufliche und private Herausforderungen bewältigen und wie ihr Arbeitsalltag an der TU Ilmenau aussieht. 

Kontakt

PD Dr. Sukhdeep Singh

Leiter der Forschergruppe Bioorganische Chemie bioaktiver Oberflächen