"Interdisziplinäre und internationale Kooperation ist ein entscheidender Faktor für die Entwicklung komplexer Technologien im Bereich Elektromobilität"

Interview mit PD Dr. Valentin Ivanov über Herausforderungen und Forschungserfolge bei der Entwicklung innovativer Komponenten für Elektrofahrzeuge | Dezember 2021

Wahrscheinlich war es Andreas Flocken, der schon Ende des 19. Jahrhunderts in Coburg, also unweit von Ilmenau, das erste Elektroauto der Welt entwickelte. Damals konnte niemand ahnen, welche Entwicklung die Elektromobilität nehmen würde. Heute ist klar: Die Elektrifizierung von Fahrzeugen ist ein Schlüsselfaktor für die Verringerung der Treibhausgasemissionen im Verkehr und damit auch entscheidend für die Überlebensfähigkeit der Automobilindustrie in den kommenden Jahrzehnten. Wir haben mit PD Dr. Valentin Ivanov, Kommissarischer Leiter des Fachgebiets Kraftfahrzeugtechnik an der TU Ilmenau und Leiter der Kompetenzfelder Fahrzeugtechnik und Antriebstechnik am Thüringer Innovationszentrum Mobilität (ThIMo), das den Wandel der Industrie zu nachhaltigen Mobilitätstechnologien begleitet, über aktuelle Herausforderungen und Forschungsergebnisse im Bereich Elektromobilität gesprochen.

   
Christoph Lehne

Herr Dr. Ivanov, Sie und Ihr Team beschäftigen sich bereits seit vielen Jahren mit der Entwicklung von Konzepten und Technologien der Elektromobilität. Doch obwohl in den letzten Jahren bereits enorme Entwicklungsfortschritte auf diesem Gebiet erzielt werden konnten, insbesondere mit Blick auf das Thema Energieeffizienz, gibt es immer noch viele Herausforderungen bei der "klassischen" Fahrzeugtechnik in Verbindung mit Elektromobilität. Welche sind das?

Im Bereich Elektromobilität konzentriert sich die Forschung und Entwicklung größtenteils auf Elektromotoren, Batterien und Ladetechnologien. Viele Studien haben jedoch gezeigt, dass auch die traditionelle Fahrwerktechnik erheblich angepasst werden muss, um neben Umweltfreundlichkeit auch für Elektrofahrzeuge ein hohes Niveau an Fahrsicherheit und Komfort zu gewährleisten. Deshalb sind beispielsweise neue Lösungen für Bremsen, Radaufhängung und Reifen elektrischer Fahrzeuge sehr gefragt. Eine zentrale Herausforderung bei der Entwicklung solcher Lösungen besteht in einem ganzheitlichen Designansatz, der die Zusammensetzung moderner Elektrofahrzeuge aus Bauteilen und Systemen mit höchst unterschiedlichem technologischem Reifegrad berücksichtigt.


Welches Know-how im Bereich Elektromobilität konnten Sie an Ihrem Fachgebiet in den vergangenen Jahren aufbauen, um zur Lösung dieser Probleme beizutragen?

Wir forschen an unserem Fachgebiet seit vielen Jahren zu verschiedenen Aspekten der Elektromobilität: Zum Beispiel haben wir bereits vor zehn Jahren mit der Entwicklung neuer mechatronischer Bremssysteme, Brake-by-Wire genannt, begonnen und im EU-Projekt E-VECTOORC mit Industriepartnern wie TRW und Jaguar Land Rover Regelmethoden entworfen und patentiert, die ein optimales Zusammenspiel von Radnabenmotor und Reibbremsen für robuste Fahrsicherheit und zugleich optimale Energieeffizienz in Elektrofahrzeugen ermöglichen.

TU Ilmenau
Das Fachgebiet Kraftfahrzeugtechnik der TU Ilmenau entwickelt innovative Komponenten für Elektrofahrzeuge (v.l.n.r.: Viktar Beliautsou – Projekt XILforEV, Dr. Valentin Ivanov, Marius Heydrich – Projekt EVC1000)

Diesen Ansatz, die Fahrwerksysteme und den elektrischen Antriebsstrang integriert zu regeln, haben wir um andere Anwendungsfälle erweitert. So verbessert beispielsweise im patentierten Ride Blending System die kombinierte Anwendung einer aktiven Radaufhängung mit den Vertikalkräften, die beim Ansteuern von Radnabenmotoren entstehen, den Fahrkomfort eines Elektrofahrzeugs wesentlich.

Auf dieser Basis konnten wir eine völlig neuartige Fahrwerkarchitektur, die so genannte Active Wheel Corner, konzipieren, in der mehrere aktive Fahrwerksysteme sowie der Elektromotor radindividuell angeordnet und integriert sind. Das öffnet Wege für eine äußerst flexible, effiziente und robuste Fahrdynamikregelung. Solche innovativen Bauformen für den Bereich rund um die Räder und Ecken bei autonomen Fahrzeugen entwickeln wir derzeit auch im Rahmen des EU-Projekts OWHEEL zusammen mit anderen Universitäten aus Europa, Japan und Südafrika sowie den Industriepartnern Tenneco und Arrival. Ziel ist es, Empfehlungen für eine verbesserte Fahrdynamik und einen höheren Fahrkomfort durch innovative Radmodul-Konstruktionen bereitzustellen.
 

In zwei weiteren Horizon 2020 Projekten – EVC1000 und XILforEV – entwickeln Sie ebenfalls innovative Komponenten für Elektrofahrzeuge. Dabei geht es unter anderem um die Lösung eines der größten Probleme bei der Herstellung von Elektrofahrzeugen, die im Vergleich zu Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor geringe Reichweite. Welche Erkenntnisse und neuen Technologien haben diese Projekte bereits jetzt hervorgebracht?

Die Reichweite bleibt eine der wichtigsten Herausforderungen beim Engineering eines Elektrofahrzeugs. Die Partner im Projekt EVC1000 möchten dieses Problem teilweise lösen. Dabei bedeutet die Zahl “1000”, dass einem Elektrofahrzeug bei einer einmaligen Aufladung von weniger als 90 Minuten eine Reichweite von 1000 km ermöglicht werden soll. Um dieses Ziel zu erreichen, hat das Konsortium Fahrzeugkomponenten entwickelt, die die effiziente Integration von Antriebsstrang- und Fahrwerksystemen ermöglichen: kompakte Radnabenmaschinen, Leistungselektronik auf Silizium-Karbid-Basis, ein vollständig mechatronisches Bremssystem sowie ein vollaktives mechatronisches Feder-Dämpfer-System. Unser Fachgebiet Kraftfahrzeugtechnik ist dabei für die Integration aller Komponenten am Fahrzeug zuständig. Das Zielfahrzeug wird zurzeit für die öffentliche Demonstration auch auf unserem Uni-Campus vorbereitet.
 

Christoph Lehne
Eine der XILforEV-Testplattformen: Prüfstand in Ilmenau mit einem Radnabenmotor der slowenischen Firma Elaphe

Worum genau geht es bei dem anderen Projekt XILforEV?

Beim Projekt XILforEV, das von der TU Ilmenau koordiniert wird, geht es um neue Internet-basierte X-in-the-loop-Testplattformen für Systeme und Komponenten eines Elektrofahrzeugs. Komplexe Technologien der Elektromobilität brauchen auch anspruchsvolle Validierungsprozeduren. Dabei ist es fast unmöglich – auch für große Industrieunternehmen –, alle erforderlichen Prüfstände und Ausstattungen an einem Standort zu haben. Das heißt im Entwicklungsprozess sind immer eine Vielzahl separater Arbeitsschritte und Tests nacheinander und an unterschiedlichen Orten notwendig – bei Fahrzeugherstellern, Zulieferern und Forschungseinrichtungen.

In unserem Projekt haben wir eine Methodologie vorgeschlagen, bei der mehrere Prüfstände bei verschiedenen EU-Partnern in Deutschland, Spanien, Niederlanden, Belgien und Slowenien virtuell miteinander vernetzt sind. Das ermöglicht es den Partnern, gemeinsam und in Echtzeit Tests in unterschiedlichen Fahrszenarien durchzuführen. Auf diese Weise können die Zeiten und Kosten für die Entwicklung von Elektrofahrzeugen wesentlich reduziert werden. Wir implementieren diese Methodologie sowohl für die Entwicklung der bereits erwähnten Brake-by-Wire- und Ride Blending-Systeme als auch für übergreifende Studien zur funktionalen Sicherheit von Elektrofahrzeugen. 

 

Bei den meisten Ihrer Forschungsprojekte zur Elektromobilität handelt es sich um EU-geförderte Projekte. Warum ist es so wichtig, dieses Thema EU-weit vernetzt anzugehen?

Einerseits brauchen Forschung und Entwicklung eines Elektrofahrzeugs starke Interdisziplinarität. Hierfür haben wir einerseits intern eine sehr zuverlässige Kooperation mit dem Fachgebiet Regelungstechnik – beispielsweise im EU-Projekt CLOVER –  und mit dem Fachgebiet Hochfrequenz- und Mikrowellentechnik – in den Forschergruppen MOSYS und EMISYS – etabliert.

Darüber hinaus hat das Fachgebiet Kraftfahrzeugtechnik in den letzten zehn Jahren aber auch ein sehr breites internationales Forschungsnetzwerk aus Partnern mit einzigartigen Kompetenzen in verschiedenen Bereichen, beispielsweise in der Entwicklung von Radnabenmotoren, intelligenter Leistungselektronik, hochdynamischen elektromechanischen Aktoren usw. aufgebaut, die unsere Kompetenzen perfekt ergänzen. Anderseits verfügen das Fachgebiet Kraftfahrzeugtechnik und das Thüringer Innovationszentrum Mobilität über mehrere State-of-the-Art-Testeinrichtungen, mit Hilfe derer die EU-Partner auch eigene Technologien validieren können.

Zudem bietet die Europäische Kommission kontinuierlich effiziente Förderformate an, die fast alle Bereiche der Elektromobilität abdecken. Seit 2021 gibt es speziell dafür die öffentlich-private Partnerschaft „Towards Zero Emission Road Transport (2Zero)“.

 

Inwiefern können Ihr Team sowie Ihre Kollegen und Partner dabei von der technischen Ausstattung im Thüringer Innovationszentrum Mobilität profitieren?

Definitiv bekommen wir mit der ThIMo-Ausstattung viele Vorteile. Fast alle Fahrwerk-Baugruppen eines Elektrofahrzeugs können hier getestet werden. In diesem Jahr wurde auch der Motorenprüfstand im ThIMo-II Gebäude erweitert, der Tests mit Hochleistungs-E-Maschinen ermöglicht. Für Feldversuche stehen außerdem vollinstrumentierte Fahrzeugdemonstratoren zur Verfügung. All dies nutzen wir intensiv bei unseren Forschungskooperationen. Unter anderem haben wir im Bereich Elektromobilität zahlreiche gemeinsame Experimente mit den Kollegen aus Universitäten in Compiegne, Tokio, Pretoria und Surrey sowie mit Industriepartnern wie Audi und Tenneco hier in Ilmenau durchgeführt.

 

Wie können die in den Projekten entwickelten Konzepte und Technologien der wissenschaftlichen Community auch auf globaler Ebene für weitere Forschungen nutzbar gemacht werden?

Exzellente Testplattformen sind wertlos ohne die passenden Kompetenzen und kreativen Ideen. Deshalb ist interdisziplinäre und auch internationale Kooperation ein entscheidender Faktor für die Entwicklung komplexer Technologien, wie sie im Bereich Elektromobilität notwendig sind. Aber gerade jetzt, in der aktuellen Pandemiesituation, gibt es hierfür erhebliche Hindernisse. Vor diesem Hintergrund gewinnt das bereits erwähnte Projekt XILforEV ganz neu an Bedeutung, auch was die Öffnung wissenschaftlicher Produktionsprozesse im Zeitalter der Digitalisierung angeht: Auf jedem Forschungsgebiet arbeiten heute weltweit zahlreiche Forschergruppen an Universitäten, Instituten und in der Industrie, die alle sehr unterschiedlichen Zugang zu modernen experimentellen Einrichtungen haben. Viele Forscher leiden in dieser Hinsicht unter begrenzten Möglichkeiten, ihre Ideen und Methoden anhand von realen Objekten zu validieren.

Unsere vernetzten und verteilten X-in-the-loop-Technologien sind ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich interdisziplinäre, branchenübergreifende und internationale Forschungsanstrengungen im Sinne von Open Science und Open Research miteinander verbinden, konsolidieren und in Einklang bringen lassen, um so gemeinsam zur Lösung komplexer naturwissenschaftlicher und ingenieurwissenschaftlicher Aufgaben und gesellschaftlicher Herausforderungen beizutragen.