Das Rasterkraftmikroskop wurde ursprünglich konzipiert, um elektrisch nicht leitende Oberflächen mit atomarer Auflösung abzubilden; für leitende Metall- oder Halbleiteroberflächen war dies bereits durch das Rastertunnelmikroskop möglich.  Mittlerweile haben sich beide Rastersondenmethoden zu erstklassigen Werkzeugen für die Quantenphysik und -chemie an Oberflächen und Grenzflächen entwickelt.  Neben der Manipulation von Materie Atom für Atom haben zu dieser faszinierenden Entwicklung zwei wesentliche Errungenschaften beigetragen, nämlich die Verwendung einer rasch oszillierenden piezokeramischen Stimmgabel als Kraftsensor und die Funktionalisierung der Mikroskopspitzen mit einzelnen Atomen oder Molekülen.  Beides wird in den zu schildernden Experimenten genutzt, um erstmalig die lokale chemische Reaktivität innerhalb eines einzelnen Moleküls zu erproben.  In diesen herausfordernden Arbeiten wird der räumliche Abstand zwischen zwei Atomen auf weniger als eine Bindungslänge reduziert.

Als Sensor für die Reaktivität dient ein einzelnes CO-Molekül, das vermöge eines bekannten Verfahrens an die Spitze eines Rasterkraftmikroskops transferiert wird.  Abbildung 1 illustriert das Vorgehen.  Ein Ensemble von CO-Molekülen wird neben den auf ihre chemische Reaktivität hin zu studierenden Molekülen auf der Oberfläche koadsorbiert.  In rastertunnelmikroskopischen Aufnahmen erscheinen sie als Vertiefung mit kreisförmigem Umriss (Abb. 1a).  Die Spitze kann ein einzelnes CO aufnehmen, indem sie bei einer bestimmten elektrischen Spannung zwischen Spitze und Probe nahe genug an das CO-Molekül herangeführt wird.  Die so präparierte Spitze trägt ein einzelnes CO, wobei das O-Atom die äußerste Stelle des Spitzenapex darstellt.  Der erfolgreiche Transfer zeigt sich bei der erneuten Abbildung desselben Oberflächenbereichs, in dem das zuvor adsorbierte CO-Molekül nunmehr fehlt und die Farbstoffmoleküle mit höherer Auflösung erscheinen (Abb. 1b, 1b*).  Ein weiterer Hinweis auf die funktionalisierte Spitze ist die Erscheinung von adsorbierten CO-Molekülen als Erhöhung in rastertunnelmikroskopischen Aufnahmen (Abb. 1c).

 

Abbildung 1: Funktionalisierung einer metallischen STM-Spitze mit einem einzelnen CO-Molekül. (a) STM-Bild einer Ag(111)-Terrasse mit 4 2H-Pc-Molekülen und 1 CO-Molekül (Pfeil), aufgenommen mit einer metallischen Spitze (50 mV, 15 pA, 21 nm × 13 nm). (b) STM-Abbildung desselben Bereichs wie in (a) mit einer CO-terminierten Spitze. (c) Die CO-terminierte Spitze bildet adsorbierte CO-Moleküle als Erhöhungen (gestrichelte Kreise) ab, und nicht als Vertiefungen wie in (a) (50 mV, 15 pA, 9 nm × 14 nm). Die untere Zeile illustriert schematisch das Aufnehmen eines adsorbierten CO-Moleküls an die Spitze. Der Einschub (b*) zeigt anhand einer STM-Abbildung eines 2H-Pc-Moleküls die erhöhte Ortsauflösung vermöge der CO-Spitze.

Diese Spitze wird nun verwendet, um die lokale chemische Reaktivität eines einfachen Farbstoffmoleküls zu erforschen.  Es handelt sich dabei um ein Phthalocyanin (2H-Pc, Abb. 2a), das in Abbildungen mit einer charakteristischen Kleeblattstruktur (Abb. 1, Abb. 2a (links)) auftritt.  Die wesentlichen experimentellen Befunde, die die Schlussfolgerung eines einmolekularen Sensors für intramolekulare chemische Reaktivität zulassen, sind in Abb. 2b dargestellt.  Sie zeigen, dass der Verlauf der kurzreichweitigen Kraft zwischen CO und 2H-Pc vom ausgewählten Ort innerhalb des Farbstoffmoleküls abhängt.  Die Datensätze decken für zwei exemplarische intramolekulare Orte auf, dass der Punkt maximaler Anziehung (Kraftminimum an (z*,F*)) eine signifikant stärkere Anziehungskraft im makrozyklischen Zentrum (roter Punkt in Abb. 2a) als am molekularen Rand (blau) aufweist.  Die Hypothese, dass sich die Größe von F* als Indikator für die lokale chemische Reaktivität eignet, wurde in sich anschließenden Experimenten erhärtet.
 

Abbildung 2: (a) Modell des Phthalocyanin-Farbstoffs 2H-Pc zusammen mit einem STM-Bild (links, 100 mV, 50 pA, die scheinbaren Höhen variieren von 0 pm (dunkelblau) bis 100 pm (weiß)) und einem AFM-Bild (rechts, die Graustufen kodieren Resonanzfrequenzänderungen von −13 Hz (dunkel) bis −7 Hz (hell)) eines einzelnen 2H-Pc, das auf Ag(111) adsorbiert wurde. (b) Kurzreichweitige Kräfte zwischen der CO-terminierten AFM-Spitze und den im AFM-Bild markierten intramolekularen Stellen. Die Richtung der Annäherung ist gekennzeichnet. Der Spitzenvorschub z* indiziert den Punkt maximaler Attraktion mit Kraft F*. Die Distanz 0 pm ist durch den Spitzenvorschub definiert, der sich beim Deaktivieren der Regelschleife auf reinem Ag(111) einstellt (50 mV, 15 pA).

Das makrozyklische Zentrum des 2H-Pc wird reaktiver, wenn die pyrrolischen H-Atome entfernt werden.  Tatsächlich weiß man aus konventionellen chemischen Reaktionen mit einer Vielzahl von Phthalocyaninen, dass der Einbau eines metallischen Atoms in das Zentrum – dies ist die Metallierungsreaktion des Farbstoffs – auf seine erhöhte chemische Reaktivität zurückzuführen ist.  Die H-Atome können Atom für Atom mit Hilfe der Mikroskopspitze entfernt werden, d.h. man kann die Reaktion 2H-Pc → H-Pc → Pc manuell auf Einzelmolekülniveau durchführen.  Abbildung 3a präsentiert STM- und AFM-Aufnahmen des Produktmoleküls Pc.  Mit dieser Methode kann die chemische Reaktivität des Zentrums atomweise verändert werden.  Abbildung 3b demonstriert, dass die kurzreichweitige Kraft am Punkt maximaler Anziehung zwischen CO und dem molekularen Zentrum substanziell größer als im Fall von 2H-Pc ist.  Diese zusätzlichen Experimente untermauern, dass der Betrag von F* ein brauchbares quantitatives Maß für die lokale chemische Reaktivität darstellt.

Insgesamt ergeben die Experimente, dass ein einzelnes CO-Molekül als empfindlicher Sensor für die lokale chemische Reaktivität verwendet werden kann.  Die Größe der maximalen kurzreichweitigen Attraktion zwischen dem molekularen Sensor und dem untersuchten Molekül ist ein quantitatives Maß für die Stärke der sich lokal ausbildenden Bindung; je größer |F*| ist, desto reaktiver ist die untersuchte intramolekulare Stelle.  Diese neuartigen Ergebnisse eröffnen den Weg, reaktive Zentren von biologisch und chemisch relevanten Molekülen mit atomarer Auflösung zu detektieren.  Zukünftige Nanotechnologien, die die Konstruktion und Verwendung von funktionellen Molekülen anstreben, können von diesen Ergebnissen profitieren.

 

 
Abbildung 3: Wie Abbildung 2 für Pc.

Die Amerikanische Chemische Gesellschaft hat diese Erkenntnisse kürzlich in The Journal of Physical Chemistry Letters publiziert:

K. Rothe, N. Néel, M.-L. Bocquet, J. Kröger, Extraction of Chemical Reactivity and Structural Relaxations of an Organic Dye from the Short-Range Interaction with a Molecular Probe, J. Phys. Chem. Lett. 13, 8660 (2022).

 

Kontakt

Prof. Dr. Jörg Kröger
Technische Universität Ilmenau
Fakultät für Mathematik und Naturwissenschaften
FG
Experimentalphysik I / Oberflächenphysik
joerg.kroeger@tu-ilmenau.de