Energia Connecticum 2023: Fachkolloquium der TU Ilmenau nimmt „Energienetze der Zukunft“ in den Blick

Interview mit Prof. Dirk Westermann über die drängendsten Fragen der Energiewende und den aktuellen Stand der Forschung an Energienetzen der Zukunft | März 2023

Prof. Westermann im ForschungslaborPavel Chatterjee
Prof. Dirk Westermann, Direktor des ThEFI und Fachgebietsleiter Elektrische Energieversorgung an der TU Ilmenau

Vom 9. bis 10. März 2023 findet an der TU Ilmenau die Energia Connecticum 2023 statt.  Experten und Expertinnen aus der Energiewirtschaft und -wissenschaft sowie Studierende und Mitarbeitende der Universität sind eingeladen, sich bei dem wissenschaftlichen Kolloquium des Thüringer Energieforschungsinstituts (ThEFI) über Disziplingrenzen hinweg zu aktuellen Energiefragen auszutauschen. In diesem Jahr liegt der fachliche Fokus der zweitägigen Veranstaltung auf dem Thema "Energienetze der Zukunft". Wir haben mit dem Gastgeber des Kolloquiums, ThEFI-Direktor und Fachgebietsleiter Elektrische Energieversorgung an der TU Ilmenau, Prof. Dirk Westermann, über die drängendsten Fragen der Energiewende und den aktuellen Stand der Forschung an „Energienetzen der Zukunft“ gesprochen.

Die Transformation unseres Energiesystems weg von nuklearen und fossilen Brennstoffen hin zu erneuerbaren Energien und mehr Energieeffizienz erfordert die Entwicklung neuer, wirtschaftlich tragfähiger und ausfallsicherer Technologien in bislang unbekanntem Ausmaß – und das innerhalb kürzester Zeit. Wo stehen wir aktuell? Und was muss noch getan werden? Über diese Fragen tauschen sich Expertinnen und Experten aus Thüringen und Deutschland bei der Energia Connecticum aus.

Themenübergreifende Fachvorträge von Prof. Dr. Stefan Niessen, Head of Technology Field Sustainable Energy & Infrastructure bei Siemens Technology und Professor an der TU Darmstadt für Technik und Ökonomie Multimodaler Energiesysteme, und Dr. Hartwig Stammberger von der Eaton Industries GmbH geben einen Überblick über den aktuellen Stand und das Potential der Forschung in diesem Bereich. Carsten Feller, Thüringer Staatssekretär im Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft, illustriert in seiner Keynote insbesondere die Bedeutung des Themas für den Technologie- und Wissenschaftsstandort Thüringen. In Postersessions und Pitches präsentieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der TU Ilmenau darüber hinaus ihre Promotions- und Projektvorhaben am ThEFI, dem Thüringer Energieforschungsinstitut, das von Prof. Dirk Westermann geleitet wird.

 
Herr Prof. Westermann, mit dem wachsenden Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung stehen auch unsere Energienetze vor neuen Herausforderungen. Unter anderem muss das Verteilnetz der Zukunft den technischen Anforderungen durch einen hohen Anteil Erneuerbarer Energien wie Wind- und Sonnenenergie gerecht werden, und das Stromversorgungssystem der Zukunft soll nachhaltig, flexibel und bezahlbar sein. Wie kann diese Transformation gelingen?

Die Defossilisierung der Energieversorgung ist eine zentrale technische und gesellschaftliche Herausforderung. Erforderlich ist der schnelle und flächendeckende Ausbau erneuerbarer Energieerzeugung. Nachhaltige Lösungen dafür müssen nicht nur sparsam mit begrenzten Flächen und knappen Ressourcen umgehen, sondern auch eine effiziente Energieverteilung ermöglichen. Nicht zuletzt müssen diese auch von den beteiligten Akteuren – Industrie, Handwerk, Bürger etc. – akzeptiert und unterstützt werden. Die Transformation kann nur gelingen, indem wir diesen Herausforderungen mit Innovation in der Technologie begegnen, aber auch den Umbau der Versorgung im Konsens mit der Gesellschaft vornehmen. Hier ist also vor allem die interdisziplinäre Zusammenarbeit aller Wissenschaftsdisziplinen mit der Wirtschaft und Politik erforderlich.
 

Auch bei einem von der Carl-Zeiss-Stiftung geförderten Projekt, das im Juli startet, arbeiten Forscherinnen und Forscher von sechs Fachgebieten der TU Ilmenau interdisziplinär zusammen, um ein ressourceneffizientes Energieverteilernetz für Deutschland zu entwickeln, das auf Gleichstrom (DC) basiert. Worin besteht der Vorteil dieser Technologie gegenüber Wechselstrom?

Der Einsatz von Gleichstrom (DC) in Verteilnetzen ermöglicht eine wesentlich höhere Auslastung der Netzinfrastruktur und verringert damit den Ressourceneinsatz für den Netzausbau, d.h. bei gleichem Materialaufwand kann deutlich mehr Energie im Vergleich zur heutigen AC-Technologie verteilt werden. Das Projekt wird die technologische Basis für ein neuartiges, vollständig Umrichter-gespeistes Verteilnetz auf Basis von DC-Technologie für den urbanen Raum entwickeln, welches die Aufgaben der heutigen Netzebenen 5-7 (Mittel- und Niederspannung) übernehmen kann. Bei der Umstellung von Verteilnetzen auf DC-Technologie handelt es sich um eine umfassende sozio-technische Transformation, die nicht nur technologisch machbar, sondern auch von den verschiedenen, in die Transformation involvierten Akteursgruppen akzeptiert und unterstützt werden muss.
 

Vor dem Hintergrund des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine und einer möglichen Gasmangellage ist das Thema Energieversorgung, speziell die Versorgungssicherheit aktueller denn je. Derzeit führen Sie im Auftrag von Ministerpräsident Ramelow und des Thüringer Ministeriums für Umwelt, Energie und Naturschutz eine Studie durch, um Lösungen zu finden, wie insbesondere die energieintensive Thüringer Glasindustrie künftig sicher mit Strom versorgt werden kann. Welche konkreten Szenarien prüfen Sie, um zeitnah den Umstieg auf alternative Energieträger zu ermöglichen und so die Zukunft der Branche zu sichern?

Die vollständige Elektrifizierung von Produktionsprozessen energieintensiver Industrien wird im Wesentlichen motiviert durch eine Defossilisierung der Produktion und die Herstellung von CO2-neutralen Produkten sowie die wirtschaftliche Optimierung in Anbetracht der stark gestiegenen Kosten für fossile Brennstoffe aller Art. Die einzige Energieform, die nach einer Elektrifizierung von Produktionsprozessen eingesetzt wird, ist (regenerativ erzeugte) Elektroenergie. Betrachtet werden soll hier im Besonderen die Substitution von Gas durch Elektroenergie für die Bereitstellung von Wärme im Produktionsprozess in der Glasindustrie.

Die Glasindustrie zählt zu den energieintensiven Industriezweigen. Als Energieträger für die Beheizung der Glasschmelzanlagen kommt hauptsächlich Gas zum Einsatz. Mit der Substitution von Gas durch Strom als Hauptenergieträger verbunden ist ein erheblicher Lastanstieg am Netzverknüpfungspunkt der Industriebetriebe und eine erhebliche Mehrbelastung für das Stromnetz. Es ist davon auszugehen, dass die aktuell vorhandene Netzinfrastruktur dafür nicht leistungsstark bzw. flexibel genug ist. Wir untersuchen vor allem, wie möglichst schnell der Umstellungsprozess aus Perspektive des Energienetzes erfolgen kann und welche innovativen Technologien und Versorgungskonzepte dafür besonders geeignet sind.
 

Forschende der TU Ilmenau beschäftigen sich am ThEFI in allen Bereichen der Energie-, Umwelt- und Systemtechnik interdisziplinär mit drängenden Fragen im Kontext der Energiewende: Sie entwickeln neuartige Schalt- und Schutzgeräte für zukünftige Gleichstromnetze oder materialsparende Komponenten und innovative Kontakt- und Isolierwerkstoffe für das Energienetz der Zukunft. Zu den Forschungsgebieten gehört auch die Nutzung der Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI), um das Energienetz sicher zu machen oder Diagnostik von Komponenten der Energietechnik zu betreiben. Außerdem bauen Sie ein ausschließlich aus regenerativen Energien gespeistes Mikrogrid als interdisziplinäre Versuchsplattform für die Forschung im ThEFI auf. Warum sind bei all diesen Themen eine ganzheitliche Perspektive, wie sie die TU Ilmenau am ThEFI verfolgt, und die intensive Zusammenarbeit mit Partnern aus Industrie und Forschung so wichtig?

Weil wir wie bereits erwähnt nur in der Zusammenarbeit der unterschiedlichen Fachdisziplinen die Transformation des Energiesystems umsetzen können. Es reicht nicht aus, nur die Geräte zu betrachten oder einzelne Systemkomponenten. Auch deren Orchestrierung in einem regenerativen Energiesystem ist von fundamentaler Wichtigkeit. Aufgrund unserer Struktur im ThEFI verfügen wir hier im Sinne der interdisziplinären Zusammenarbeit über ein Alleinstellungsmerkmal am Standort, den wir nutzen und weiter ausbauen wollen.
 

Für diese Forschungen steht den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, aber auch Partnern der TU Ilmenau am ThEFI eine exzellente Laborinfrastruktur zur Verfügung – von einer dynamischen Netzleitwarte über ein Hochspannungslabor bis hin zu einem Hochstromprüffeld. Gibt es Planungen, diese Infrastruktur noch weiterzuentwickeln?

Selbstverständlich! Wir entwickeln die Laborinfrastruktur kontinuierlich weiter. Man könnte sagen, sie wächst mit ihren Aufgaben. Natürlich gehören dazu auch die kontinuierliche Bearbeitung von Forschungsprojekten und die Erarbeitung von Innovation mit Praxispartnern.

Das jüngste Beispiel ist die im Rahmen das vom Freistaat Thüringen aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds finanzierte Forschungsgruppe SOFIE, an der drei Fachgebiete beteiligt sind. Hier wird an Fragestellungen gearbeitet, die besonders lokale Netze betreffen. Diese zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass teilweise ein sehr hoher Anteil der Netzteilnehmer aus leistungselektronischen Systemen besteht, was auf Grund ihrer technischen Eigenschaften besondere Herausforderungen, aber auch neue Möglichkeiten mit sich bringt. In diesem Zusammenhang wird am ThEFI ein verteiltes Stromrichtersystem entwickelt, das dann für weitere Forschungsvorhaben zur Verfügung steht.
 

Zum Abschluss noch ein etwas weiterer Blick in die Zukunft: Wie wird unser Energienetz in 20 Jahren aussehen? Lässt sich eine klimaneutrale Versorgung mit Energie tatsächlich allein auf Basis technologischer Innovationen ohne Abstriche beim Lebensstandard erreichen?

Ich denke, wir haben die Möglichkeit, bis zum Jahr 2050 – vielleicht auch bis Mitte der 2040er Jahre – Klimaneutralität in der Energieversorgung zu erreichen. Dazu sind allerdings noch viele technische und gesellschaftliche Innovationen erforderlich, um den Lebensstandard beizubehalten. Technisch gesehen wird in diesem System die Energieinformationstechnik und -automatisierung ebenso eine große Rolle spielen wie leistungselektronische Geräte aller Art. Es werden Netzstrukturen mit AC- und DC-Technologie und Speichern sein, die schnell an die volatile Erzeugung angepasst werden können, und ein solches System wird sicherlich grundsätzlich anders geplant und betrieb werden müssen, als wir das aus der Vergangenheit kennen. Ein Schlüsselfaktor dafür sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die die notwendigen Innovationen erarbeiten und Fachleute, die diese umsetzen. Da wir das auch als Mission im ThEFI verstehen, werden wir sicherlich auch große Beiträge dazu leisten.

 

Kontakt:

Prof. Dirk Westermann
Leiter Fachgebiet Elektrische Energieversorgung und ThEFI-Direktor
+49 3677 69-2838
dirk.westermann@tu-ilmenau.de